Wir trampelten das mickrige Feuer mit den Schuhen aus und rollten die Decke zusammen. Leana wollte einen Schluck aus dem Fluss trinken, bevor wir aufbrachen, doch ich hielt sie zurück. „Es macht dich nur krank“, erklärte ich ihr. Ich hatte die Leute alle möglichen Dinge in das Wasser kippen sehen. Es gab einen Grund dafür, dass nur wenig Wasser in der Stadt getrunken wurde.
„Überhaupt nichts zu trinken, macht mich ebenso krank“, erwiderte sie, doch sie hörte auf mich.
„Komm, wir gehen.“ Ich nahm die Decke und dann verließen wir unser Nachtlager.
Wir waren nicht die Einzigen, die zu den Stadttoren strömten. Viele der Ringbewohner arbeiteten tagsüber im Kern und kehrten erst abends in ihre ärmlichen Behausungen zurück. Es war grausam, dachte ich, für den Reichtum anderer zu arbeiten, wenn man ihn selbst nie erlangen würde. Doch genau das hatte ich vor: Arbeit finden für Leana und mich.
Auf unserem Weg durch den Stadtring huschten meine Augen immer wieder besorgt zu Leana hinüber. Ihr schmales Gesicht war blass, auf ihrer Nase und ihren Wangen lagen Sommersprossen verstreut wie die ersten Sterne am Nachthimmel und ihre braunen Augen wirkten beinahe schwarz. Sie war oft krank gewesen im vergangenen Jahr. Und ich fürchtete, dass die Übernachtung unter der Brücke ihrem zierlichen Körper zugesetzt hatte.
Sie bemerkte meinen Blick. „Was ist?“
„Geht es dir gut?“
„Geht es dir denn gut?“, fragte sie zurück.
Ich sagte nichts.
Die Straßen wurden breiter, baufällige Hütten wurden durch größere Häuser ersetzt und bald schon kam eines der Stadttore in Sicht. Die Mauern waren grau, hoch und bedrohlich. Sie versprachen, jeden davon abzuhalten, unbefugt ins Innere der Stadt zu gelangen. Die breiten Flügel des Tores waren jedoch weit geöffnet, zu beiden Seiten standen je zwei Soldaten der Stadtwache und beobachteten die Leute, die sie passierten. Sie trugen blaue Uniformen mit dem Wappen Felsburgs auf der Brust: eine stattliche Burg mit Türmen und wehenden Fahnen.
Leana schob ihre schmale Hand in meine, als wir zügig durch das Tor liefen. Der Blick des einen Stadtwächters blieb an mir haften und für einen schrecklichen Moment hatte ich das Gefühl, er würde direkt in meine Seele schauen und meine dunkelsten Geheimnisse kennen. Dann wandte er sich ab und wir waren im Kern der Stadt.
„Wo gehen wir jetzt hin?“, fragte Leana abwesend, während sie die prächtigen Villen und Gärten betrachtete, an denen wir entlanggingen.
All die Fragen, die sie mir seit unserem Auszug aus dem Waisenhaus gestellt hatte, schwirrten mir selbst im Kopf herum. Es war nicht das erste Mal, dass ich Arbeit suchte. Die Aufseher hatten uns schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass wir nicht für immer bleiben konnten und Geld verdienen mussten, denn Kinder blieben wir nicht ewig. Und in den letzten Wochen hatten wir viele neue Waisen bekommen, wie es so oft geschah, wenn das Wetter schlechter und die Armen kränker wurden. Die ältesten mussten dann gehen. Dieses Jahr hatte es uns getroffen.
Doch es war nicht einfach, als Waise Arbeit zu finden. Unser schlechter Ruf eilte uns voraus, wohin wir auch gingen. Wir waren krank, ungehorsam, faul und stahlen – so sagte man uns nach. Nun gut, das Letzte mochte ich nicht bestreiten, doch man musste sich schließlich zu helfen wissen.
„Vertrau mir einfach“, murmelte ich, doch in Wahrheit wusste ich es selbst nicht. Einfach weitergehen und die nächste sich bietende Möglichkeit ergreifen, das war meine großartige Überlegung.
Es stimmte, ich fühlte mich genauso hilflos wie sie selbst, doch ich wollte ihr ein Gefühl der Sicherheit geben, wenn ich es schon selbst nicht besaß. Ich setzte das selbstgefälligste Halblächeln auf, das ich aufbringen konnte, und schaute zielgerichtet nach vorn, als hätte ich bereits einen Plan. Ich spürte die Blicke, die sie mir zuwarf, und wusste, dass es mir gelungen war: Sie vertraute mir. Mehr noch als ich mir selbst. Ich durfte sie nicht enttäuschen.
„Was die anderen wohl gerade machen?“, überlegte Leana.
„Töpfe und Teller abwaschen, Böden schrubben, das Mittagessen vorbereiten ...“ Ich stieß sie mit dem Ellenbogen in die Seite und wir lächelten uns an, froh darüber, diese lästigen Aufgaben heute nicht zu den unseren zählen zu müssen. Ich hielt an und sie ebenso.
Irritiert musterte sie mich. „Was ist los, Aron?“
Wir befanden uns inmitten einer wohlhabenden Nachbarschaft, auf dem Bürgersteig neben einem großen Garten, der trotz der Jahreszeit mit seinen gepflegten Büschen und Bäumen, Hecken und weißen Kieselwegen beeindruckte.
Ich sah sie verschwörerisch an. „Schließe die Augen.“
„Was?“ Sie war noch immer verwirrt.
„Mach schon.“
„Wieso denn?“
„Tu es einfach.“ Ich legte ihr meine Hand vor die Augen und spürte ihren Wimpernschlag.
Sie kicherte. „Was soll das denn?“
Ich lehnte mich zu ihr vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Stell dir vor, wir wären nicht Leana und Aron aus dem Waisenhaus.“
Sie grinste. „Wer sind wir dann?“
„Wir sind Leana und Aron aus dem Stadtkern. Wir machen einen Spaziergang durch unsere Nachbarschaft, bevor wir zurückkehren in unsere vornehme Villa, wo bereits das Essen für uns angerichtet ist.“ Ich nahm meine Hand herunter.
Leana rümpfte die Nase, wie sie es wohl reiche Leute hatte tun sehen, hakte sich bei mir unter und wir gingen weiter. „Sieh nur, der Stadtmeister hat einen neuen Springbrunnen im Garten. Wir sollten uns auch einen bauen lassen.“
„Noch einen?“, fragte ich empört.
„Von Springbrunnen kann man nie genug haben!“
„Da hast du recht, meine Liebe.“
Ein älteres Ehepaar lief an uns vorbei, hatte wohl den letzten Teil unserer Unterhaltung mit angehört und bedachte uns mit skeptischen Blicken, als hätten wir den Verstand verloren. Wir mussten lachen.
„Hast du ihre Gesichter gesehen?“, prustete Leana.
„Ja, und hast du ihre Sachen gesehen? Dieser glänzende Zylinder und der froschgrüne Frack über dem dicken Bauch?“
„Und das hässliche Kleid mit den albernen Rüschen?“
Oh, wie viel schöner fühlte es sich an, über diese Leute zu lachen, als sich eingestehen zu müssen, dass sie alles besaßen, was uns vor Neid erblassen ließe.
Die Illusion des reichen, sorgenfreien Lebens wurde schon bald zerstört. Wir fragten in der Bäckerei, der Schneiderei, bei den Gärtnern des Stadtparks und bei etlichen Läden und Verkaufsständen nach Arbeit, doch niemand wollte oder benötigte unsere Hilfe. Es war bereits Nachmittag und wir setzten uns auf den Rand des Springbrunnens in der Mitte des großen Platzes vor dem Rathaus, weil man von Springbrunnen nie genug haben konnte, wickelten uns in die Decke und Leana beschloss mit einem müden Lächeln, dass unser Brunnen genauso aussehen sollte. Wir waren beide durstig und hungrig, müde von den Zurückweisungen und wohl auch ein wenig verzweifelt. Was sollte denn nun aus uns werden?
Leana schaute traurig in das unbewegte Wasser. Selbst für die Wasserfontänen war es bereits zu kalt, um zu tanzen, doch wir mussten hier draußen überleben. Ich wollte gar nicht daran denken, wo wir an diesem Abend schlafen würden. Oder in all den Nächten, die uns noch bevorstanden. Der Winter würde hart werden und wir würden erfrieren.
Wenn wir nicht vorher verhungerten.
Als ich zu Leana hinüberblickte und den leeren Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerkte, vermutete