„Tilda, zeig der Waise die Küche.“
Tilda nickte und machte auf dem Absatz kehrt. Leana folgte ihr mit unsicherem Schritt.
„Wie geht es den Kindern?“, wandte sich Ernestine in gelangweiltem Ton an Roman.
Er lächelte höflich. „Danke, gut. Wie geht es Eckart?“
„Er packt gerade oben seine Sachen für die Reise zusammen. Ich würde dich ja für einen Plausch unter Männern zu ihm hinaufschicken, doch er will nicht gestört werden.“
Ich legte meine Hände, die ich seit dem Fluss nicht mehr gewaschen hatte, auf den Tisch und spielte mit dem Zipfel der schmalen Tischdecke.
Ernestine warf mir einen eisigen Blick zu und verzog dann ihren Mund zu einem hässlichen, aufgesetzten Lächeln. „Junge, hier wurde gerade erst geputzt. Sei also so gut und fasse so wenig wie möglich an.“ Das Lächeln verschwand augenblicklich wieder.
Ertappt hielt ich die Hände in die Höhe und riss die Augen weit auf. Dann legte ich sie zurück auf meinen Schoß. „Waise Nummer zwei bittet untertänig um Verzeihung“, murmelte ich.
Sie blickte mich scharf an. „Hast du etwas gesagt?“
Nun war ich es, der gespielt freundlich lächelte. „Ich bitte Sie um Verzeihung.“ Ich glaubte, so etwas wie ein Schmunzeln in Romans Gesicht zu erspähen.
Leana kehrte aus der Küche zurück, auf der einen Hand balancierte sie ein Tablett mit einem Glaskrug voll kristallklarem Wasser und einem Weinglas. Sie begab sich an die rechte Seite von Ernestine und stellte das Glas auf dem Tisch ab. Dann schenkte sie elegant ein, die andere Hand auf dem Rücken, ohne dabei auch nur den winzigsten Tropfen zu verschütten.
„Manieren hat sie zumindest“, sagte Ernestine zu dem Metzger und einmal mehr fragte ich mich, was für ein Leben Leana wohl vor dem Waisenhaus geführt hatte.
„Bring das weg und komm dann wieder“, befahl Ernestine in herrischem Ton und Leana schwebte wieder davon. Dann erhob sie sich und mit ihr Roman. Also stand ich auch auf.
„Junge“, sagte sie zu mir, „das Mädchen werde ich behalten. Es tut mir leid, aber für dich habe ich bedauerlicherweise keine Verwendung.“ Als ob ich der dreizehnte, überflüssige Samtstuhl zu ihrem Tisch wäre.
Wie ich es mir schon gedacht hatte. Dennoch war ich erleichtert, Leana versorgt zu wissen, geschützt vor Kälte und Hunger. Dann machte es jetzt wohl auch nichts mehr, den Vorhang der Höflichkeiten fallen zu lassen. „Ich kann Ihnen also nicht das Wasser reichen? Nun, Sie mir auch nicht.“
Empört riss Ernestine den Mund auf, um etwas ebenso Unhöfliches heraussprudeln zu lassen, doch da legte ihr Roman beruhigend die Hand auf die Schulter.
„Was erlaubt der sich eigentlich?“
Der Metzger schmunzelte wieder kaum merklich. „Er hat doch nur einen Scherz gemacht. Du kannst es ihm nicht verdenken, er ist aus dem Ring und weiß es nicht besser.“
Ich nickte mit gespielt reuevoller Miene. „Ich wollte Sie wirklich nicht kränken.“ Zu dick aufgetragen?
Leana kam zurück und stellte sich eingeschüchtert vor die Dame des Hauses.
„Ich habe gute Neuigkeiten für dich, mein Kind. Du darfst dir das Gesicht waschen und dann in der Küche putzen. Tilda wird dir alles zeigen.“ Mit diesen Worten rauschte sie aus dem Raum.
Leana sah ihr fragend nach. Sie wartete darauf, zu hören, dass ich ebenfalls bleiben durfte.
Roman fasste ihr Zögern falsch auf und raunte ihr erklärend zu: „Du bist eingestellt, Mädchen.“
Leanas Augen wanderten zu mir hinüber. Ich schüttelte entschuldigend den Kopf. Panik kehrte in ihren Blick zurück. „Du verlässt mich?“ Ihre Stimme zitterte leicht.
„Ich komme dich besuchen.“
„Lass mich hier bitte nicht allein! Wenn du gehst, gehe ich auch.“
Ich packte sie bei den Schultern. „Sei nicht dumm, Leana. Du wirst es hier gut haben. Besser jedenfalls als da draußen.“ Ich deutete aus dem Fenster.
Jetzt stiegen ihr Tränen in die Augen. „Und was ist mit dir?“
Ich lächelte. „Mach dir um mich keine Sorgen. Ich hab da schon eine Idee.“
Ein Hoffnungsschimmer zwischen dem Tränenschleier. „Wirklich? Was für eine?“
Ich grinste sie an. „Eine brillante. Ich erzähle dir alles, wenn ich dich besuchen komme.“
„Wann?“
„Ganz bald. Und jetzt gib mir eine Umarmung.“ Ich breitete die Arme aus. Sie schmiegte sich an mich und ich ließ einen Teil der gestohlenen Münzen in ihre Jackentasche gleiten: elf Silbermünzen. Immerhin war es auch ihr Verdienst gewesen. Sie bemerkte das zusätzliche Gewicht in ihrer Tasche, wollte protestieren, wurde sich jedoch Romans Anwesenheit bewusst und schwieg daher, als ich mich sanft von ihr löste.
„Bis bald“, sagte ich und ließ Leana stehen, diese kleine Person in diesem viel zu großen Haus.
*
Stadtratten
Roman begleitete mich nach draußen, wo es bereits dunkel geworden war. „Bist ein guter Lügner. Du hast keinen blassen Schimmer, wie es mit dir weitergehen soll, richtig?“
Wieder knirschten die Kiesel unter meinen Sohlen. Spottend. „Nicht wirklich.“ Ja, ich hatte Leana von jeher gepredigt, dass wir ehrlich zueinander sein mussten, wollten wir es gegen den Rest der Welt aufnehmen. Manchmal jedoch brachte ich es einfach nicht übers Herz, ihr die kalte Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Sie sollte sich auf ihre neue Arbeit konzentrieren.
Roman lief hinter mir. „Tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte, Junge.“
Ich hielt ihm die Gartentür auf. „Das ist nicht schlimm. Die Hauptsache ist, dass Leana ein Dach über dem Kopf hat.“
„Ja“, erwiderte er gedankenverloren. Vermutlich dachte er wieder an sein eigenes kleines Mädchen.
Die Gartentür fiel hart hinter mir ins Schloss.
„Danke“, sagte ich voll Aufrichtigkeit und er nickte mir zu.
Roman ging nach rechts, also ging ich nach links, auch wenn ich nicht wusste, wohin mich meine Füße tragen würden. Ich war erleichtert, Leana in Sicherheit zu wissen, andererseits war ich auch verzweifelt, wenn ich an meine eigene nahe Zukunft dachte. Ich hatte keine Arbeit und keinen Ort, an dem ich mich vor dem hereinbrechenden Winter schützen konnte. Nur eine Handvoll Silbermünzen, die schon bald ausgegeben sein würden. Wohin sollte ich gehen? Wo würde ich die kommende Nacht schlafen? Wie um meine Ängste zu schüren, fuhr ein eisiger Wind durch meine Kleider und ließ mich erschaudern.
Es war furchtbar, nicht zu wissen, wohin man ging. Ich fror schon jetzt, wie sollte es erst im Verlauf der Nacht werden? In all den anderen beständig kälter werdenden Winternächten? Erfrierungen waren keine schöne Sache. Überhaupt war der Winter keine schöne Jahreszeit. Während er den Reichen Schneemänner, weiße Wunderlandschaften und gefrorene Seen zum Schlittschuhlaufen brachte, schenkte er den Armen nur Kälte, Hunger und Tod.
Wie sehnte ich mich nach einem ewigen Sommer! Ich hatte schon von Ländern gehört, in denen es nie Winter wurde, konnte mir aber nicht so recht vorstellen, dass sie wirklich existierten. Vielleicht waren sie nur die sehnsuchtsvollen Fantasien der Frierenden.
Ich musste mir überlegen, wie ich die kommende Nacht überstehen wollte. Geld hatte ich, allerdings nicht genug, um mich langfristig über die Runden zu bringen, und auf einen weiteren Glücksgriff in die Tasche eines Fremden konnte ich mich