»Lies, lies.«
Und René begann sie zu rezitieren, die Litanei voll süßer Mystik; und ihr werdet gern glauben, dass die Ora pro nobis der Seneschallin immer schwächer klangen wie der Klang des Horns in der weiten Landschaft. »Du geheimnisvolle Rose«, rezitierte der Page voll Inbrunst. Und die Schlossherrin, die wohl gehört hatte, antwortete nur mit einem leisen Seufzer. Da konnte René nicht mehr zweifeln, dass die Seneschallin eingeschlafen war. Er gab also seinen erstaunten Blicken freien Lauf und dachte an keine andre Litanei mehr als die der Liebe; dem Armen drohte das Herz stillzustehen vor heißem Glück; und wer es gesehen hätte, wie hier zwei Jungfernschaften aneinander und füreinander entbrannten, würde sich wohl hüten, je so was zusammenzubringen.
Die Augen des glücklichen René lustwandelten sozusagen im Garten des Paradieses, er sah über sich die verbotene Frucht, das Wasser lief ihm im Mund zusammen. So sehr geriet er in Verzückung, dass das Stundenbuch seiner Hand entfiel, worüber er verlegen wurde wie eine Nonne, die in ihrem Schoß plötzlich sich etwas regen fühlt. Er gewann aber daraus die Gewissheit, dass Blancheflor fest und sicher schlief; sie rührte sich nicht. Die listige Evastochter hätte auch bei einem ernsteren Fall oder Unfall die Augen nicht geöffnet, sie rechnete darauf, dass noch andres fallen werde als Stundenbücher, denn heftiger als das unberechenbare und kapriziöse Verlangen einer Schwangeren ist das einer solchen, die es erst werden will. Unterdessen betrachtete der Edelknabe den Fuß seiner Dame, der in einem gar zierlichen Pantöffelchen von hellblauer Seide stak und recht auffällig auf einem Schemel ruhte, da der Sessel des Seneschalls, worin die Dame die Schlafende spielte, ungewöhnlich hoch war. Und ach, was war das für ein Fuß! Schmal war er und war reizvoll geschwungen, nicht länger als ein Hänfling, den Schwanz mit eingerechnet, kurz, ein Fuß zum Entzücken, ein jungfräulicher Fuß; er verdiente geküsst zu werden, wie ein Dieb verdient gehängt zu werden. Ein feenhafter Fuß war's, ein wollüstiger Fuß, ein Fuß, über den ein Erzengel gestrauchelt wäre, ein verhängnisvoller Fuß, ein herausfordernder Fuß, ein Fuß, in dem der Teufel stak, so weiß und unschuldig er aussah, ein Fuß, der dazu aufforderte, zwei neue, ganz gleiche zu machen, um ein so schönes und vollkommenes Werk Gottes nicht aussterben zu lassen. René hätte am liebsten den unglückseligen oder vielmehr ganz glückseligen Fuß aller seiner Hüllen entkleidet. Von diesem wonnigen Fuß gingen seine trunkenen Augen, darinnen alles Feuer seiner ersten Jugend flammte, hinauf nach dem schlafenden Antlitz seiner Frau und Herrin, er lauschte auf ihren Schlummer, er trank ihren süßen Atem. Und so hin und zurück. Er konnte sich nicht entscheiden, was süßer zu küssen wäre, die frischen, feuchtroten Lippen der Seneschallin oder dieser vermaledeite, vielmehr gebenedeite Fuß. Er entschied sich dennoch endlich, und aus ehrfürchtiger Angst, vielleicht auch aus übergroßer Liebe wählte er den Fuß und küsste ihn, küsste ihn hastig wie ein Jungferlein, das gern möchte und noch nicht wagt. Dann griff er nach seinem Stundenbuch, und während das Rot seiner Wangen noch röter wurde, schrie er wie ein Blinder vor der Kirchentür:
»Janua coeli, du Pforte des Himmels.«
Aber kein Ora pro nobis antwortete ...
Blancheflor erwachte nicht; sie rechnete darauf, dass der Page vom Fuß bis zum Knie hinaufstiege und so weiter die Leiter. Sie war darum sehr enttäuscht, dass die Litanei ohne weiteren Fall und Unfall zu Ende ging und René, dem sein Glück schon zu groß schien für einen einzigen Tag, auf den Zehen aus dem Saal schlich, sich reicher dünkend von dem kühn geraubten Kuss als ein Dieb, der den Opferstock erbrochen hat.
Die Seneschallin blieb allein zurück. Sie dachte in ihrer Seele, wie lange wohl dieser Page brauchen werde, um vom Präludium zum Introitus zu gelangen. Sie fasste den Entschluss, am nächsten Tag den Fuß noch ein wenig höher zu stellen, um auf diese Weise ein kleines weißes Zipfelchen von jener Schönheit hervorblicken zu lassen, von der man bei uns zu Haus sagt, dass ihr die Luft nicht schadet, weil sie trotzdem immer frisch und geschlacht bleibt. Wie der Page die Nacht zubrachte, könnt ihr euch denken. Er schlief auf seiner Begierde wie auf einem glühenden Rost, und mit einem erhitzten Gehirn voll Bildern und Phantasien erwartete er mit brennender Ungeduld die Stunde des verliebten Brevierbetens. Er wurde gerufen, und die seltsamliche Litanei mit ›Du elfenbeinerner Turm‹, ›Du Arche Noä‹, ›Du göttliches Gefäß‹ begann von neuem. Blancheflor verfehlte nicht, einzuschlafen; und René, unterdessen kühner geworden, tastete mit zitternder Hand über das hochgestellte Bein, er wagte sich so weit vor, um sich zu überzeugen, dass das Knie glatt und rund und etwas anders weich war wie Seide; aber so gebieterisch richtete sich seine Angst auf und stellte sich seinem verwegenen Wunsch in den Weg, dass er nur ganz flüchtige Devotionen und Liebkosungen wagte, kaum einen hingehauchten Kuss, worauf er sich sofort wieder in die Haltung des frommen Beters warf, als ob nichts geschehen wäre. Die Seneschallin, deren sensitiver Seele und intelligentem Körper nichts entging und die sich mit aller Gewalt zurückhielt, um sich auch nicht um ein Härlein zu rühren, verzweifelte fast.
»Was ist denn, René«, lispelte sie, »ich schlafe ja.«
Als der Page diese Worte hörte, von denen er glaubte, dass sie ein schwerer Vorwurf seien, ergriff er, das Buch und alles zurücklassend, mit Entsetzen, die Flucht. Da fügte die Seneschallin der berühmten Litanei eine neue Strophe hinzu:
»O allerheiligste Jungfrau«, seufzte sie, »eine wie schwere Sache ist doch das Kinderkriegen.«
Beim Essen musste der Page seinem Herrn und seiner Herrin aufwarten. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirne. Aber wie groß war seine Überraschung, als ihm Blancheflor statt bitterer Worte süße Blicke gab, verliebte Blicke, so verliebt, als Frauenblicke nur sein können, und voll geheimnisvoller Allmacht; denn sie verwandelten mit einem Schlag das schüchterne und ängstliche Kind in einen mutigen Mann.
Als darum der gute Herr Bruyn an diesem Abend sich etwas länger, als er sonst zu tun pflegte, in seiner Seneschallerei zu schaffen machte, suchte René die schöne junge Herrin, die wieder schlief, und ließ über sie einen Traum kommen, mit dem sie zufrieden war, nahm ihr kurzerhand, was ihr so lang zur Last gewesen, und gab ihr, wonach sie so lange und so viel geseufzt. Er tat sogar etwas mehr, als zu diesem löblichen Zweck nötig gewesen wäre, also dass das übrige gut zu zwei weiteren Kindern gereicht hätte. Auch fühlte er sich plötzlich an den Haaren gepackt und eng an eine weiche Brust gedrückt.
»Oh, Kleiner«, rief das verschmitzte Weibsen, »nun hast du mich aufgeweckt.«
Sie hatte wahrlich so gut geschlafen, als es ihr nur möglich war, aber es gibt Dinge, die stärker sind als der stärkste Schlaf. In dieser Stunde, und es war weiter gar kein Wunder dazu nötig, geschah es, dass auf dem kahlen Schädel des guten Bruyn, ohne dass er, wie alle seinesgleichen, auch nur das geringste davon merkte, ganz sänftiglich jenes Gewächs aufsprosste, das ich euch nicht näher zu beschreiben brauche.
Seit diesem Tag, der rot gedruckt war in ihrem Kalender, machte die Seneschallin alltäglich ihren Mittagsschlummer, wie man so sagt, auf französische Art, der Seneschall aber blieb der sarazenischen
Mode treu. Die schöne Frau machte dabei die Erfahrung, dass nicht ganz reife Früchte einen besseren Geruch haben als überreife, an denen die Fäulnis schon ihr Werk begonnen hat; sie wickelte sich darum des Nachts fest in ihre Tücher und rückte so weit weg als möglich von ihrem Herrn Gemahl, den sie stinkend fand wie einen alten Bock.
Und siehe, mit lauter Einschlafen und Aufwachen am glockenhellen Tag, mit Mittagsruhehalten und Litaneienbeten kam die Seneschallin mit Gottes Hilfe glücklich so weit, dass auch in ihr etwas wuchs und sprosste. Sie hatte sich so lange danach gesehnt, aber nun auf einmal waren ihr die Mühen der Fabrikation lieber als das Fabrikat.
René; wie ihr wisst, konnte lesen, und nicht nur in Büchern, sondern auch in den Augen seiner schönen ›Dienstherrin‹, für die er durchs Feuer gegangen wäre, wenn sie es nur im leisesten gewünscht hätte. Er las aber in den gedachten Augen, während beide sich immer tiefer in die verliebte Andacht hineinbeteten und bald an die hundert Litaneien hinter sich hatten, dass immer mehr eine schwarze Sorge sich der schönen Frau bemächtigte: die Sorge um Seele und Zukunft des geliebten Pagen; und einmal, an einem regnerischen Tage, nachdem sie wieder über dem beliebten Magnetspiel sich selber vergessen hatten, wie nur zwei unschuldige Kinder sich in ihrem