Im April 1994 gründete Covington in Chapel Hill/North Carolina die NSWPP neu. Wieder wurde die NSWPP, freilich nur für kurze Zeit, die aktivste Nazi-Partei der USA – zumindest die aktivste jener rechtextremen Verbände, die sich explizit zum Nationalsozialismus bekannten. Für seine weitere politische Tätigkeit wählte sich Covington das Pseudonym »Winston Smith« – so heißt bekanntlich in George Orwells Roman 1984 das Individuum, das gegen den alle Lebensbereiche gleichschaltenden Diktator »Großer Bruder« rebelliert. Als Winston Smith produzierte Harold Covington nun einen beachtlichen Propaganda-Ausstoß, darunter ein Wochenmagazin in Loseblattform namens Resistance (»Widerstand«) und ein tägliches Internet-Bulletin. Landesweit und international wurden per E-Mail und über eine Website umfangreiche Kommunikationsverbindungen geschaffen. Die neue NSWPP griff viele der ursprünglichen Visionen Rockwells auf; man verstand sich als revolutionäre Arierpartei, der es darum gehe, das Überleben der weißen Rasse in Nordamerika zu sichern, und zwar durch die Einrichtung einer souveränen arischen Republik. Die aggressive und hetzerische Attitüde der Publikationen sollte eindeutig frustrierte weiße Wähler gegen eine Regierung mobilisieren, die laut Covington und Konsorten Fremdrassigen ständig mehr Rechte verlieh, um sich an der Macht zu halten. Für den Fall, dass Präsident Clinton noch eine zweite Amtszeit gewährt würde (was durch die Wahlen 1996 dann ja auch geschah), prophezeite Covington »eine schreckliche Zeit der Tyrannei, der Korruption und der Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen auf brasilianisches Niveau«52. Doch wie aus seinem Buch und seinen Wortmeldungen im Internet zweifelsfrei hervorging, glaubte Covington nicht mehr so recht, auf parlamentarischem Wege weiterzukommen. Die Repression des »Systems« habe Dimensionen erreicht, die zum gewaltsamen Widerstand zwängen. Was seien denn die USA von heute? Ein Land, das laufend Quotenregelungen zuungunsten der Weißen erlasse. Ein Land, das neue strafrechtliche Kategorien wie hate crimes (»Hassverbrechen«) ersinne, durch die das robuste Vorgehen Weißer gegen die Anmaßungen Andersrassiger besonders hart geahndet würden. Ein Land, dessen Medien die weiße Identität herabsetze, wo sie nur könnten. Wo derartige Unterdrückung herrsche, müsse man über bewaffneten Kampf nachdenken.53 Konsequenterweise hat Covington inzwischen auch die Leitung der wiederbelebten NSWPP aufgegeben.
Bestimmte einheimische Organisationen der radikalen Rechten konnten sich so wohl nur in den USA entwickeln, der Ku-Klux-Klan etwa oder die Christian Identity insgesamt. Nicht minder autochthon erscheinen Formationen wie die Posse Comitatus (lateinisch für »Streitmacht der Region«), eine Bewegung, welche die Weisungsbefugnis der Washingtoner Zentralregierung schmälern will, oder die Survivalists, ein Verbund, der zivilisationsverächterisch das Überleben (»survival«) in einer von Natur- oder Kriegskatastrophen zerstörten Welt probt. Dagegen wirken amerikanische Nazigruppen wie die NSWPP, die New Order und die National Alliance exotisch und eindeutig unamerikanisch. Die Nazis der USA haben ihre eigene religiöse Doktrin, einen kruden antisemitischen Gut-Böse-Dualismus, den amerikanischen Modernisierungsverlierern als schlichtes Erklärungsmodell für die zweifellos existenten, doch in Wahrheit eben hochkomplexen Probleme angeboten, die Rassenintegration und Masseneinwanderung aus der Dritten Welt mit sich bringen. Antisemitismus war in den Vereinigten Statten aber nie mehrheitsfähig. Die paar integrationsfeindlichen Gruppen, die einigermaßen Resonanz fanden, wie etwa die White Citizens Councils (die »Weißen Bürgerräte«), artikulierten sich dezidiert pro-amerikanisch und keineswegs antisemitisch; mit Nazis wollten sie alle nichts zu tun haben. Dass der typische abstiegsbedrohte Amerikaner zwar Vorbehalte gegen »zu viel« Integration hegt, aber kein Antisemit sein möchte, erklärt vielleicht, warum der amerikanische Neonazismus ein Sektenphänomen blieb. Für einen nennenswerten Erfolg müsste er schon auf Randgruppen des weißen Amerikas zurückgreifen, die sich den Leitwerten der Bevölkerungsmehrheit beträchtlich entfremdet haben und so seine Basis verbreitern; sie würden sich der neubraunen Botschaft vielleicht empfänglicher zeigen. Versucht hat der Neonazismus dies eindeutig, so bei den Skinheads (vgl. Kapitel 10), einer bestimmten Sorte von »Patrioten« (vgl. Kapitel 14) und weißen Strafgefangenen, besonders im Süden.54
Ein anderer Anknüpfungspunkt, den die amerikanischen Neonazis nutzen oder gern nutzen würden, ist die Tradition des religiösen Fundamentalismus in den USA. Trat schon Rockwell wie ein glaubensdurchflammter Evangelist auf, so leitete Matt Koehl eine regelrechte Nazi-Kirche. In ihrer sektiererischen Enklave pflegen die amerikanischen Neonazis eine prophetische Religion, die Adolf Hitler nicht weniger als die Rolle Christi und George Rockwell die Position des heiligen Paulus zuweist. Die neubraunen Mystiker spinnen die Analogie sehr weit. Hören wir dazu den Politologen Jim Saleam, der das Kunststück fertigbrachte, gleichzeitig den (amerikanischen) Rechtsextremismus zu erforschen und ihm (in seiner australischen Heimat) ideologisch anzuhängen. Laut Saleam werten die Neonazis »die zwölf Jahre, die Hitler im Amt war, als Zeit der Offenbarung und der Wunder. Der Krieg war die Kreuzigung. Die Swastika [das Hakenkreuz] war das Kreuz, fortan als Symbol ein Talisman gegen das Böse. Die Naziführer waren Hitlers Jünger. Die Nürnberger Prozesse schufen Märtyrer und zwangen den Glauben in die politischen Katakomben. Niemand wagte mehr, Hitlers Namen auszusprechen, aus Furcht vor den Juden. Rockwell jedoch [im Zweiten Weltkrieg noch gegen Hitler aktiv] wurde zum neuen Glauben bekehrt und ausersehen, ihn zu verkünden und für ihn zu werben. Während Hitler nur den Deutschen gepredigt habe, werde Rockwell, so heißt es, alle Nationen bekehren.«55
Rockwells Ermordung durch einen Gefolgsmann vergleicht Saleam natürlich mit dem tödlichen Verrat, den der Jünger Judas an Jesus beging. Matt Koehl wiederum erhält den Part des Petrus als erster Papst einer neuen Kirche, als Bewahrer des rechten Glaubens, der die Schlüssel zum Heil in Händen hält und auch bestimmt, wer aus der einen wahren Partei exkommuniziert wird, und nach welchen Riten. Es gibt tatsächlich strukturelle, wenn nicht, vom Theologischen her, auch inhaltliche Parallelen zwischen der Frohen Botschaft des Christentums und dem rassistischen Evangelium des Neonazismus. Beide haben sie einen starken eschatologischen Zug, und beide zählen sie auf einen Messias, der alles richten wird. Es dürfte angesichts dieser Ähnlichkeiten nicht verwundern, dass, wo christlicher Fundamentalismus seine Prägekraft entfalten konnte, die Erlösungslehre der Neubraunen leichter Eingang findet, zumindest bei Einzelnen.
George Lincoln Rockwell war nicht der Erste, der in den USA mit nazieskem Gedankengut hausierte. Bereits während der 30er-Jahre gab es Gruppen, die sich patriotisch, aber prodeutsch artikulierten und Appeasement-Politik predigten. Rockwell und seine Erben übernahmen Antisemitismus und Ultranationalismus, fügten allerdings