The Order, wir erwähnten es, bezog unmittelbare Anregung für das eigene Handeln aus den Turner Diaries. Mathews selbst erklärte jedem neu Rekrutierten, dass sein Verbund der gleichnamigen inneren Elite der Turner’schen »Organisation« nachgestaltet sei, und empfahl allen Mitgliedern dringlich die Lektüre des Buches. Neben dem bereits Genannten übernahm Mathews’ Truppe aus dem Roman: Decknamen werden benutzt; »Abschusslisten« werden angelegt; Verräter werden hingerichtet; jedes neue Mitglied muss einen rituellen Eid leisten. Die »realen« Order-Leute schworen, »im Namen unserer Väter, die der grüne Rasen deckt, und im Namen der Kinder, die im Schoße unserer Frauen warten«, rückhaltlos zu kämpfen, »bis unser Volk vom Juden befreit und der Endsieg der arischen Rasse errungen ist«. Mathews selbst war von seiner religiösen Neigung her Odinist (d.h. Verehrer des germanischen Gottes Odin), also Neuheide; er hatte jedoch enge Verbindungen zu Gruppen der Christian Identity, besonders zu den Aryan Nations. Ein Viertel des Mathews’schen Gefolges gehörte sowohl dem Order als auch einer der Christian-Identity-Gemeinschaften an, etwa den Aryan Nations oder der Church of Jesus Christ Christian. David Lane, der bei dem Attentat auf Alan Berg den Fluchtwagen fuhr, war Mitglied einer Identity-Kirche. 1995 gründete er den Verlag Fourteen Word Press, so genannt nach dem von ihm selbst geprägten, genau vierzehn Worte zählenden Motto, das die Programmatik der Kämpfer für die weiße Identität bündig zusammenfasst und daher eine Art Mantra der Neuvölkischen weltweit wurde: »We must secure the existence of our people and a future for white children« (»Wir müssen Sorge tragen, dass unser Volk lebe – damit weiße Kinder eine Zukunft haben«).44
Umgekehrt hat Pierces Roman auch die Christian-Identity-Bewegung beeinflusst. In der zweiten Hälfte der 80er-Jahre diskutierten einzelne Gruppen immer wieder Pläne, auf amerikanischem Territorium einen souveränen arischen Musterstaat zu etablieren - eine deutlich den Turner Diaries nachgebildete Idee, in denen die Revolution ja mit der Errichtung eines weißen Kalifornien ihren eigentlichen Anfang nimmt.45 Pierce hat ferner die Vorstellung, die Washingtoner Führung sei ein jüdisch kontrolliertes Marionettenregime, erheblich popularisiert; inzwischen gehört diese Sichtweise zur ideologischen Grundausstattung des rechtsextrem-rassistischen Diskurses; oft genügt schon die Nennung des Akronyms ZOG, um sich rasch darüber zu verständigen, wer wieder einmal an einer unerwünschten Entwicklung Schuld hat. Die Potenz des Buches, Rechtsradikale zu terroristischem Handeln zu motivieren, ist ungebrochen. Erinnern wir uns an eine der schlimmsten Terrorattacken, die Amerika hat erdulden müssen. Am 19. April 1995 explodierte in Oklahoma City (Mittelsüden der USA) vor einem achtstöckigen Hochhaus, Sitz mehrerer Regierungsbehörden, ein sprengstoffbeladener Lkw. Die schaurige Bilanz: 168 Tote, über 800 Verletzte. Haupturheber: der 27jährige Timothy McVeigh, Golfkriegsveteran und Waffenfreak, ein politischer Wirrkopf, dessen ideologisches Weltbild zwischen Faschismus und Anarchismus oszillierte. Fest steht immerhin: er hatte zeitweise Kontakt zu Christian-Identity-Kreisen. Und fest steht: Er hatte Pierces Roman gelesen, mehrfach sogar. Eine folgenreiche Lektüre: Das 6. Kapitel beschreibt minutiös, wie Turner und die Seinen das Washingtoner FBI-Hauptquartier mithilfe eines sprengstoffbeladenen Gefährts in die Luft jagen. McVeigh hat sich offenbar, was die Methodik des Anschlags betrifft – namentlich hinsichtlich Position des Lkws und Timing -, bis ins letzte Detail von der literarischen Vorlage leiten lassen.46
Der rasche Sieg des »Systems« über The Order führte in der rechten Szene zu einem strategischen Umdenken. Zwar musste ihrer Meinung nach der Rassenkrieg weitergehen, aber man wollte künftig verdeckter operieren und dann plötzlich und möglichst unvorhersehbar zuschlagen, quasi in Desperado-Manier. Feste organisatorische Strukturen wurden fortan verschmäht, da zu leicht infiltrier- und durchschaubar. Natürlich würden weiter Terrorakte stattfinden, nur sollten eben Individuen oder ganz kleine, autonome Zellen sie verüben. Ad acta gelegt, vorerst zumindest, die Vision eines offenen Krieges, mit Nuklearwaffen gar; statt dessen gezielte »Nadelstiche«, Attacken per Pistole, Flinte oder Bombe. Die einschlägige literarische Vorlage, um nicht zu sagen Handlungsanweisung lieferte wieder einmal William Pierce. Sein zweiter Roman, Hunter, erschienen 1989, hat einen gewissen Oscar Yeagar zum Hauptakteur. Hunter bedeutet »Jäger«, und der Nachname des Helden ist nichts anderes als eine anglisierte Form des deutschen Wortes. Und Yeagar jagt tatsächlich. Er unternimmt einen Ein-Mann-Feldzug gegen Juden und Nichtweiße, besonders gegen gemischtrassige Paare. In seinem zweiten Buch musste Pierce freilich nicht utopisch daherkommen, sondern konnte sich an der Wirklichkeit orientieren. »Einsame Wölfe« Yeager’scher Art hatte es, zumindest so ähnlich, kurz zuvor bereits gegeben. Besonders in der ersten Hälfte der 80er-Jahre mutierten immer wieder Exzentriker und Psychopathen, infiziert von nazistischen Ideen, zu rassistischen Serienkillern; nennen wir etwa Joseph G. Christopher, Joseph Paul Franklin (alias James Vaughn) und Frank G. Spisak. Auch John Hinckley, der im März 1981 – erfolglos – auf Präsident Ronald Reagan schoss, hatte eine Zeitlang mit dem Nazismus geflirtet. James Mason feierte diese Morde und Mordversuche in den Spalten des Siege als heroische Taten.47 Pierces zweites Buch empfahl implizit eine neue Kampfmethode, mit der sich die militärische Überlegenheit des Staatsapparates möglicherweise neutralisieren lasse. Vernetzten Gruppen könne dieser immer nachspüren, suggeriert Pierce, nicht aber isolierten Einzelnen, von denen man gar nicht wisse, dass sie Attacken planten. Einzelne sollten gegen Einzelne, höchstenfalls Paare, losschlagen; derlei ist schwer zu verhindern und schwer zu ahnden. Dafür aber weckten solche Attentate gegen Nichtweiße und ethnisch gemischte Paare in der breiten Öffentlichkeit das Bewusstsein für die Rassenproblematik. Da käme so mancher ins Grübeln, ob denn der bisher praktizierte Egalitarismus wirklich der richtige Weg sei. So werde langfristig die gemischtrassige Gesellschaft effektiv demoralisiert und destabilisiert.48
Andere Apologeten des rassistischen Terrors fanden die Rechtfertigung solchen Tuns gar in der Heiligen Schrift. So der Publizist Richard Kelly Hoskins aus Virginia, geboren 1928, der für die Gegenwart eine Art Rassenpolizei mit himmlischem Mandat fordert; er nennt das Idealkonstrukt »Pinehas Priesthood« (»Pinehas-Priesterschaft«) – nach einem frommen Gottesmann, der laut Hoskins schon in alttestamentarischer Zeit vorführte, was heute notwendig wäre. Hoskins’ Belegstellen stammen überwiegend aus dem 4. Buch Mose (Numeri) und den