1. Species und Individualität des Menschen
Die Einheit der substanzialen Form besagt, daß alles, was ein Ding ist, auf eine substanziale Form zurückzuführen sei; daß also im Menschen nicht eine Mehrheit von Formen sei, deren eine seinen Körper zum materiellen Ding mache, eine die Grundlage des organischen Lebens und wiederum andere die Grundlagen des animalischen und des geistigen Lebens bildeten. Wir würden sagen: Alles das sei in der Species des Menschen beschlossen. Damit wird die Species nicht etwas »Zusammengesetzes«; es ist nur in ihr begründet, daß die Individuen, in denen diese Species sich realisiert, einen Schichtenaufbau zeigen. Wenn sich die »spezifische Differenz« angeben läßt, durch die sich »Mensch« und »Lebewesen« unterscheiden, so ist doch nicht das, was den Aufbau des Menschen bestimmt, als Zusammenfügung aus »Genus« und »spezifischer Differenz« zu denken. Hier steigt die Frage auf, ob es überhaupt angeht, das Verhältnis von »Lebewesen« und »Mensch« als Verhältnis von Genus und Species aufzufassen, wie es traditionell geschieht. Logisch ist das wohl möglich, weil sich ein gemeinsamer und ein verschiedener Merkmalsbestand angeben läßt. Ontologisch aber scheint es mir nicht möglich, wenn man als Genera die Ideen bezeichnet, durch die die verschiedenen Seinsgebiete in sich geeint und gegeneinander abgegrenzt werden. Denn so gefaßt sind »Lebewesen« und »Mensch« einander als Gattungsideen nebengeordnet. Species fassen wir ontologisch als das eigentlich Formende, das den Aufbau und qualitativen Bestand des realen Individuums bestimmt. Die Tierspecies sind Differenzierungen der Gattungsidee des Tieres, und sie geben uns an, was das Individuum ist: Löwe, Bär usw. Nur wenn man die Gattungsidee als die Urform auffaßt, aus der alle Differenzierungen des ganzen Seinsgebietes genetisch abzuleiten sind, dann wird das Genus selbst zur Species, d. h. zur realiter bestimmenden Form, und die Individuen der ganzen Gattung werden zu mannigfach gestalteten Gliedern einer sie alle umfassenden realen Einheit. Wenn also das, was der Mensch als solcher ist, das eigentlich Formende in den menschlichen Individuen ist und das, was uns Antwort gibt auf die Frage, was dieser Mensch sei, dann werden wir zugleich von der Gattung und von der Species Mensch sprechen müssen. Manches bei Thomas scheint darauf hinzuweisen, daß er es so verstanden haben will. Ich erinnere an den Grundsatz: individuum de ratione materiae. Die Materie ist Prinzip der Individuation. Das gilt für alle Dinge, in deren Aufbau die Materie einbezogen ist, und wird ausdrücklich auch auf den Menschen angewendet. Es ist ein Grundsatz, der uns zunächst die Existenz einer Mehrheit von Exemplaren einer Species begreiflich machen soll; anders ausgedrückt: die Existenz der Species in einer Mehrheit von Exemplaren. Die substanziale Form ist etwas Letztbestimmtes, was keinerlei formale Differenzierung mehr zuläßt. Wenn wir uns eine Mehrheit von gleichen Individuen denken sollen, so muß etwas vorhanden sein, wodurch sie sich unterscheiden (sonst wären sie eins), und dieses Unterscheidende darf nichts Qualitatives sein. Bei den Engeln, die nach Thomas reine Formen sind, gibt es keine Möglichkeit solcher Unterscheidung. Jeder von ihnen ist eine eigene Species. Dafür können wir auch sagen: Species und Individuum fallen zusammen. Überall dagegen, wo das Individuum geformte Materie ist, da ist in der Materie etwas gegeben, was ohne qualitative Differenzierung eine Mehrheit von Exemplaren derselben Form möglich macht: Die Materie ist ausgedehnt und die räumliche Ausdehnung läßt quantitative Bestimmung zu. Die quantitativ bestimmte Materie (materia signata) – ein »Stück Materie« hier und da – kann durch dieselbe Species geformt werden, sodaß wir hier und da Exemplare derselben Species bekommen. Für den Menschen ergibt sich dann die Möglichkeit der Individualisierung durch den materiellen Leib.
[Ich habe hier verschiedene Bedenken schon in der Engellehre, die ich nur als Fragen formulieren, nicht jetzt behandeln will: 1.) Sind die Engel wirklich als reine Formen anzusehen? Bedürfen nicht auch sie als endliche und geschaffene Wesen einer Materie, wenn auch keiner räumlich ausgedehnten? 2.) Genügt für die Singularisierung nicht die Zahl als solche; bedarf es zur Anwendung der Zahl eines indifferenten Mediums, eines Kontinuums?]
Bedeutsamer sind die Schwierigkeiten, die sich für die Individualisierung des Menschen durch den Leib aus Thomas' eigener Auffassung der Menschenseele ergeben. Wenn der materielle Leib das Individuierende ist, was eine Mehrheit von Exemplaren der Species Mensch möglich macht, so müßte die Species als das Formende in den Individuen angesehen werden: also anscheinend etwas Allgemeines. Das kann aber nicht die Meinung des hl. Thomas sein. Er hat einen energischen Kampf gegen die zu seiner Zeit weitverbreitete averroïstische Auffassung geführt, die den »intellectus agens«, den tätigen Verstand, als einen in allen Menschen erklärte. Er hat darin eine Durchbrechung der Einheit der Seele gesehen, als deren höchste Potenz er den Verstand in Anspruch nahm. Jeder Mensch hat seinen eigenen Verstand, weil jeder seine eigene Seele hat, und diese Seele ist (nach Thomas) seine substanzielle Form. So kommen wir zu einer individuellen Seele (wie es ja auch der dogmatischen Auffassung entspricht, nach der jede einzelne Seele von Gott geschaffen ist) und damit zu einer individuellen Form des Menschen. Sollen wir diese Seelen als gleich ansehen, die materiellen Körper als das, was erforderlich ist, damit die Seelen ins Dasein treten können, und die Unterschiede, die erfahrungsgemäß an den menschlichen Individuen hervortreten, als von der Form her »zufällige«, die wir dann auch auf die Materie zurückführen müssen? Die Fortpflanzung der Menschen hätte dann nur Sinn, um für die Erhaltung der Species zu sorgen. Die Eigenart der Individuen wäre ohne Belang. Warum die individuellen Seelen erhalten bleiben (wie es Thomas für die Menschenseelen in Anspruch nimmt, für die Tierseelen dagegen bestreitet), das ließe sich nicht durch einen Eigenwert ihrer Individualität begründen. Die Möglichkeit einer Fortexistenz der Seele ohne den Körper (wie sie der Glaube fordert) wird von Thomas damit begründet, daß die Seele für sich allein Substanz sei. Dann ist ja aber offenbar der materielle Leib nicht unerläßliche Bedingung ihres Daseins. Und gerade aus dem, was Thomas über die reinen Geister sagt, müßte gefolgert werden, daß sie, um gesondert existieren zu können, als Formen unterschieden sein, d. h. eine eigene Species sein müßten.
So kommen wir dazu, das menschliche Individuum nicht als Exemplar einer allgemeinen Species Mensch aufzufassen, sondern durch seine eigene, einzigartige substanziale Form bestimmt, die als Spezifizierung der Gattungsidee aufzufassen ist. Wenn außer von der Gattung »Mensch«, die sich nur spezifiziert in Individuen realisieren kann, von einer Species »Mensch« (nicht: dieser Mensch) geredet werden soll, so muß sie wiederum individuell gefaßt werden, nämlich als Species der Menschheit, die als ein großes Individuum zu fassen ist. Die menschlichen Individuen sind Glieder dieses großen Individuums und ihre Formen Gliedformen.
2. Menschenseele und substanziale Form
a) Formung des materiellen Körpers durch die Seele und ihre Grenzen
Ist als die individuelle, substanziale Form die geistige Seele anzusehen? Und was ist dann ihre Materie? Wir haben früher zu dem, was jetzt metaphysisch erörtert wurde, den Zugang vom Erleben gesucht und gefunden: Die Menschenseele mit ihrer personalen Struktur und ihrer individuellen Qualifizierung hat sich uns als Form des ganzen leiblich-seelischen Individuums herausgestellt; ich pflege sie auch als »Kern der Person« zu bezeichnen, weil das Ganze, das wir als »menschliche Person« bezeichnen, in ihr seine Seinsmitte hat. Wir wollen noch einmal dem Schichtenaufbau der menschlichen Person nachgehen und prüfen, ob und in welchem Sinne sie alle von diesem Kern her geformt sind. Kann man von einer solchen Formung beim Leib sprechen, sofern er rein materieller Körper ist? Wir haben es in dem Sinn festgestellt, daß das aktuelle Seelenleben sich im Leib ausprägt – in dem, was wir »Ausdruck« nennen –, und diese Prägung bedeutet auch eine rein körperliche Veränderung, die vorübergehend sein kann, aber auch dauernd: Wenn es sich um eine habituelle Prägung handelt (Falten in der Stirn, ein charakteristischer Zug um den Mund, eine gebeugte Haltung u. dgl.). Das alles sind Umformungen eines bereits Geformten, die sich aber während der ganzen Lebensdauer vollziehen. Kann auch für das, was der Körper unabhängig von der Formung durch das aktuelle Seelenleben ist, die Seele als Form in Anspruch genommen werden? Wir schreiben gewissen festen Körperformen einen Ausdruckswert zu (z. B. der Schädelbildung). Von verschiedenen Seiten her ist es versucht worden, eine Symbolik der menschlichen Gestalt systematisch aufzubauen. Das scheint darauf hinzudeuten, daß einer bestimmt gearteten Seele