Als vorläufiges Ergebnis dieses Überblicks können wir eine Formung des menschlichen Seelenlebens vom Ich her in doppeltem Sinn feststellen: Die Ichstruktur als solche gibt dem Seelenleben eine bestimmte Struktur, die noch nicht auf das freie Tun des Ich zurückzuführen ist: die Form der Intentionalität und das Frei-tätig-sein-Können. Dazu kommt die Formung, die durch die freie Aktivität des Ich selbst geleistet wird, indem es sich in dem Spielraum der Betätigungsmöglichkeiten für diese oder jene Aktivität entscheidet. Die Formung durch die Ichstruktur kann noch als Analogon der Formung in den andern Seinsbereichen aufgefaßt werden; die in ihr begründete Formung durch die freie Aktivität des Ich hat im Untermenschlichen kein Analogon.
b) Formung des leib-seelischen Individuums
α) »Ich« und »Selbst« als Formendes und zu Formendes; Ich und Leib; Ich und Seele; Thomas' Auffassung der Seele
Nun erschöpft sich das seelische Sein nicht in der Ichaktualität. Als Seinsgrundlage des aktuellen seelischen Lebens fanden wir die Seele selbst mit ihren Potenzen und Habitus. Potentialität, Habitualität und Aktualität stehen in einem Funktionszusammenhang: Die Potenzen grenzen den natürlichen Möglichkeitsbereich für die Aktualität ab. Was aktualisiert wird, ist entscheidend dafür, was von den Potenzen habituelle Prägung erfährt. In der Einheit von Leib und Seele ist es begründet, daß die Gestaltung der Seele und die Gestaltung des Leibes in einem geschehen. Der ganze Mensch erhält seine Prägung durch das aktuelle Ichleben und ist »Materie« für die Formung durch die Ichaktivität. Hier erst stehen wir vor dem Selbst, das vom Ich geformt werden kann und soll. Wofür ich mich in jedem Augenblick entscheide, das bestimmt nicht nur die Gestaltung des gegenwärtigen aktuellen Lebens, sondern es ist von Bedeutung für das, was ich, der ganze Mensch, werde. Ob ich jetzt Klavier übe oder spazierengehe, ob ich einen aufsteigenden Zorn bemeistere oder ihm die Zügel schießen lasse, davon hängt nicht nur ab, ob die gegenwärtige Stunde so oder so ausgefüllt ist. Von einem Mal Üben hängt es zwar noch nicht ab, ob ich ein Virtuose werden kann oder nicht. Und ein Zornausbruch macht es nicht unmöglich, daß ich es in meinem Leben noch lerne, Selbstbeherrschung zu üben. Aber jede Entscheidung schafft eine Disposition, im selben Sinn wieder zu entscheiden. Je öfter ich mich entschließe, die Übungsstunde ausfallen zu lassen, desto größere Energie wird für die entgegengesetzte Entscheidung nötig. Zugleich wird mit dem beständigen Ausfallen der Übung die Ausbildung der musikalischen Begabung zur Fertigkeit unmöglich. So ist es, im Rahmen der natürlichen Möglichkeiten, Sache meiner Freiheit, ob ich Musiker werde oder nicht. Alle Ausbildung des Körpers, alle Schulung der Sinne, alles, was man Geistes- und Charakterbildung nennt, hat hier seine Stelle.
Der Mensch mit allen seinen leiblich-seelischen Anlagen ist das »Selbst«, das ich zu formen habe. Was aber ist das Ich? Wir nannten es freie, geistige Person, die intentionalen Akte sind ihr Leben. Steht das freie, geistige Ich als solches außerhalb der leiblich-seelischen Natur, die es mit seinem Tun zu formen hat oder gehört es in sie hinein, ist es ihre »innere Form«? Daß ich mich selbst zu formen habe, scheint darauf hinzuweisen, daß es in die reale Einheit einzubeziehen sei. Wir sagen ja auch: Ich bin dieser Mensch, wir sprechen von der »menschlichen Person«. Gehört die Personalität, die Ich- Form zur menschlichen Natur und kann man ihre Stelle darin bestimmen?
Ich bin nicht mein Leib – ich habe und beherrsche meinen Leib. Ich kann auch sagen: Ich bin in meinem Leibe. Gedanklich kann ich mich von ihm entfernen und ihn wie von außen betrachten. In Wirklichkeit bin ich an ihn gebunden. Ich bin da, wo mein Leib ist, wenn ich mich auch »im Geist« ans andere Ende der Welt versetzen und sogar über alles Räumliche erheben kann. Ich kann keinen Punkt im Körper bestimmen, wo das Ich seinen Ort hätte. Man hat das früher versucht; aber selbst wenn die Gehirnanatomie einen bestimmten Teil des Gehirns angeben könnte, dessen Zerstörung ein Schwinden des »Ichbewußtseins« und der ganzen personal-geistigen Struktur zur Folge hätte, könnten wir nicht sagen, daß an dieser Stelle das Ich seine Stelle hätte. Das Ich ist keine Gehirnzelle; es hat einen geistigen Sinn, der nur vom Erleben seiner selbst zugänglich ist. Und auch die Lokalisation des Ich bestimmt sich nur vom Erleben. Diese erlebte Lokalisation aber (ebenso wie die phänomenal an andern gegebene) ist keine physikalisch zu bestimmende. Ich kann mich an jeden Punkt meines Leibes begeben und in ihm gegenwärtig sein; manche Teile aber, z. B. Kopf und Herz, sind mir näher als andere.
Wir rühren hier an die Wurzel der Einheit von Leib und Seele; damit aber auch an die Frage: Wie steht das Ich zur Seele? Bin ich meine Seele? Offenbar ist es auch nicht möglich, das zu sagen. Ich bin der Mensch und habe Leib und Seele. Mein Leib ist ein Menschenleib und meine Seele eine Menschenseele; das bedeutet aber einen persönlichen Leib und eine persönliche Seele. Ein persönlicher Leib: Das ist einer, in dem ein Ich wohnt und der durch das freie Tun des Ich gestaltet werden kann. Wohnt das Ich auch in der Seele und ist sie dadurch Menschenseele? Nach Thomas ist die Menschenseele wie die Tier- und die Pflanzenseele forma corporis; sie ist zugleich – ebenso wie die Tierseele – das, was Potenzen und Habitus und ein aktuelles Leben hat: Dies alles in dem funktionellen Zusammenhang, wie er früher geschildert wurde; und darüber hinaus ist sie Geistseele oder Vernunftseele und als solche eine geistige Substanz, die nicht mehr notwendig an den Körper gebunden ist. Es wird aber die ganze Seele: die körperformende, die animalisch-lebendige, die geistige als eine Seele gefaßt. Wir versuchen jetzt, ob sich all das oder was sich davon phänomenal rechtfertigen läßt.
β) Die Menschenseele: peripheres und zentrales, oberflächliches und tiefes Erleben – Seinsmodi des Ich und Dimensionen der Seele; seelisches Ich; Ort des Ich in der Seele
Weil uns jetzt die Teilfrage beschäftigt, ob ich in meiner Seele lebe, wollen wir vom Ichleben ausgehen und von hier den Zugang zur Seele suchen. Wenn ich absehe von aller äußeren Erfahrung, in der mir Menschen als leiblich-seelische Wesen begegnen, wenn ich mich auf das zurückziehe, was ich innerlich erlebe, was bedeutet dann »Ich« und was bedeutet »Seele«?
Ich denke jetzt über dieses Problem nach und zugleich höre ich ein Geräusch von der Straße und sehe das Blatt, das vor mir liegt, und meinen Schreibtisch und noch einiges andere in meiner Umgebung. Ich bin auf das Problem gerichtet; was ich höre und sehe, gleitet an mir vorbei, es berührt mich nur peripher. Dem Problem bin ich eigentlich zugewendet, ich stehe ihm gegenüber und halte es mit dem geistigen Blick fest. Aber es ist noch etwas in mir, dem ich jetzt nicht Raum geben, dem ich mich nicht zuwenden und das ich gar nicht aufkommen lassen will: eine Unruhe, eine Sorge. Sie ist da und ich weiß um sie, sie ist vielleicht schon lange da und beharrt »unter« allem, was sich an der Oberfläche abspielt, sie liegt auf dem »Grunde meiner Seele«. Ich bin bei dem Problem und nicht bei dem, was ich höre und sehe. Das ist eine geistige Situation, die ihre Parallele im äußeren Sehen hat: Wie das Auge nur einen kleinen Teil seines Sehfeldes im Blick haben kann, während das andere es nur seitlich trifft, so gibt es auch ein geistiges Sehfeld und darin eine fixierende Zuwendung und ein Bemerken an der Peripherie. Das geistige Blickfeld ist kein Teil des Ich, es ist etwas Gegenständliches, das Ichzugehörigkeit hat: die gegenständliche Welt, soweit sie jeweils von seinem Bewußtsein umspannt wird. Die »zentrale« Zuwendung des Ich zu seinem Thema und das »periphere« Bemerken sind verschiedene Bewußtseinsweisen. Dieser Gegensatz von »Zentrum« und »Peripherie« bezeichnet keine Ausdehnung, keine Räumlichkeit des Ich selbst. Es kann hierin noch gleichsam punktuell gefaßt werden, als der »Punkt«, von dem die verschieden gerichteten Bewußtseins-»Strahlen« ausgehen. Husserl hat das Subjekt der Akte, das, wovon alles Bewußtseinsleben ausstrahlt, als »reines Ich« bezeichnet und in dieser Weise als ein punktuelles charakterisiert. Es ist ausdehnungslos, qualitätslos, substanzlos. – Wenn wir aber an das denken, was »auf dem Grunde der Seele liegt«, dann kommen wir mit dieser Beschreibung nicht aus. Das, was ich höre und sehe, und auch das, was mich jetzt gedanklich beschäftigt und dem ich zentral zugewendet bin, trifft mich nur oberflächlich. Der Grund der Seele, in dem jene Sorge lebt, wird davon nicht erreicht. Von dem, was da in der Tiefe lebt, geht ein Zug aus. Wenn ich dem nachgäbe, wenn ich in der Willensanspannung nachließe, mit der ich mein gedankliches Thema festhalte, dann würde mich die Sorge bald ganz erfüllen. Es wäre aus mit dem Gedankengang, und das Problem wäre bald ganz aus dem Blickfeld verschwunden. Das muß nicht so sein. Es kann auch ein gedankliches Problem mich innerlich ergreifen