2. Analogische Deutung des Fremden durch Eigenes und des Eigenen durch Fremdes
Eine erkenntniskritische Untersuchung müßte fragen, wie weit das, was wir an Menschen und Tieren an Seelischem wahrnehmen, eine Deutung der äußeren Erscheinungen nach Analogie des in uns erfahrenen Seelischen ist und wie weit das Recht solcher analogisierenden Deutung geht; umgekehrt aber auch, wieviel von dem, was wir in und an uns selbst wahrnehmen, bestimmt ist durch die Analogie mit dem, was wir in äußerer Erfahrung als menschliches Sein erfassen. Daß wir Fremdes nach Analogie des Eigenen deuten, dürfte stärker für die Erfahrung des aktuellen Lebens gelten. Daß wir uns selbst nach Analogie der andern betrachten, hat wohl mehr Bedeutung für die Erfassung des dauernden seelischen Seins, des Menschen als psychophysischer Ganzheit, seiner Potenzen usw.
3. Struktur der Seele: Potenzen – Habitus – aktuelles Leben; Einheit der »Kraft«
Daß der Mensch vom Menschen eine doppelte Erfahrung hat, eine innere und eine äußere, und daß diese beiden doch wieder in die Einheit einer Erfahrung eingehen, das gehört zum Menschen selbst, soll uns aber hier noch nicht beschäftigen. Sicher ist, daß wir in der unreflektierten Erfahrung den Menschen als leib-seelische Einheit auffassen wie das Tier, daß wir ihm nicht nur aktuelle seelische Regungen, sondern dauernde Eigenschaften, körperliche wie seelische, zuschreiben: scharfe oder schwache Sinne, sichere oder unsichere Instinkte, eine leidenschaftliche und heftige oder eine ruhige Gemütsart usw. Zwischen diesen dauernden Eigenschaften oder Vermögen und den aktuellen seelischen Regungen bestehen bestimmte Beziehungen. Die aktuellen Regungen und Betätigungen sind es, die uns die dauernde Beschaffenheit bekunden (neben dem Äußeren, dessen Gepräge uns ein Spiegel der seelischen Eigenart ist). An den Leistungen der Sinne erkennen wir ihre Leistungsfähigkeit, an den Affektausbrüchen das Temperament usw. Und diese Erkenntnisbeziehung ist in einer ontischen Beziehung begründet: Das aktuelle Seelenleben hat in den Potenzen seine Seinsgrundlage, die Potenzen gehen in den Akten in eine andere Seinsform über. Diese »Aktualisierung« ist anderseits nicht ohne Rückwirkung auf die Potenzen: Sie sind nichts Starres und Unwandelbares, sondern erfahren, indem sie sich betätigen, selbst eine Umformung: eine erhöhte Leichtigkeit und Bereitschaft, in Aktualität überzugehen. Wir nennen die aktuelle Betätigung, sofern sie eine solche Rückwirkung hat, Übung. Die Potenzen selbst, die eine solche Umformung durch Betätigung (oder auch auf andere Weise) erfahren haben, bezeichnet die Scholastik als Habitus: Darunter fällt alles, was wir als Fertigkeiten, aber auch alles, was wir als Tugenden bezeichnen. Diese Umwandlung von Potenzen in Habitus haben wir schon beim Tier: Alles, was wir »Dressur« nennen, beruht darauf.
Der Mensch und die Menschenseele sind kein loses Bündel getrennter Potenzen. Sie alle haben ihre Wurzel in der Seele, sind Verzweigungen, in die sie sich auseinanderfaltet; und gerade an dem Verhältnis von Potenzen, Habitus und Akten wird die Einheit der Seele recht deutlich. Es ist für den Menschen nicht möglich, alle seine Potenzen zugleich und in gleichem Maße auszubilden, wie es ihm nicht möglich ist, sie alle zugleich zu aktualisieren. Wenn sein Verstand intensiv arbeitet, so hört und sieht er kaum noch, was um ihn herum vorgeht. Wenn sein Gemüt heftig erregt ist, ist sein Verstand nicht aktionsfähig. Die Seele verfügt offenbar über ein begrenztes Kraftmaß, das in verschiedene Richtung gelenkt werden kann. Indem es in eine Richtung gelenkt wird, wird es den andern möglichen Richtungen entzogen. (Analoges ist bei allen Organismen festzustellen.) Darin ist es begründet, daß er der Mensch nur ganz wenig von dem, was er potentiell ist, jeweils aktuell sein kann, und daß auch keineswegs alle seine Potenzen habituell ausgestaltet werden können. Vieles von dem, was in ihm angelegt ist, bleibt das ganze Leben lang unrealisiert. – So betrachtet erscheint der Mensch als ein sehr kompliziert gebauter Organismus: ein einheitliches Lebensganzes, das in ständiger Bildung und Umbildung begriffen ist; eine leiblich-seelische Einheit, die sich zugleich in eine immer differenzierter gegliederte und in mannigfacher Weise funktionierende körperliche Gestalt formt und prägt und seelisch immer reichere und festere Ausprägung erfährt; seelische und körperliche Prägung vollziehen sich in ständiger Aktivität, die Auswirkung gewisser Anlagen ist und zugleich entscheidend dafür, welche der verschiedenen Gestalten, die im Sein des Menschen als möglich vorgezeichnet sind, Wirklichkeit wird.
4. Bedingungen der Entwicklung
Von welchen Bedingungen hängt nun der tatsächliche Entwicklungsverlauf ab? Offenbar weitgehend von äußeren Umständen, von der »Umwelt« des Lebewesens. Für die organische Entwicklung sind die materiellen Bedingungen – Bodenbeschaffenheit, Klima usw. – mitbestimmend für die Auswirkung der Form. Für das animalische Leben ist das Reiz-Reaktionsverhältnis maßgebend. Wenn die Ausbildung der Potenzen an ihre Betätigung gebunden ist, die Betätigung aber von äußeren Reizen abhängt, so werden die jeweils wirksamen Reize oder ein Mangel an entsprechenden Reizen bestimmend für die faktische Gestaltung des animalischen Wesens sein. Zahme Hunde und Katzen, die im Hause eingeschlossen leben und ihr Futter fertig vorgesetzt bekommen, können ihre Raubtierinstinkte nicht zur Auswirkung bringen. So können auch im Menschen Anlagen verkümmern, die keine Gelegenheit zur Betätigung finden. Hier aber kommen wir wieder an die Grenze, wo es unmöglich wird, den Menschen von den unteren Schichten seines Seins her zu begreifen, wo wir auf das spezifisch Menschliche stoßen. Wenn wir eine Pflanze oder ein Tier sehen, die »verkümmert« sind, d. h. bei denen das für sie Spezifische nicht zur Entfaltung gebracht ist, so machen wir die ungünstigen Lebensbedingungen dafür verantwortlich, evtl. den Menschen, der sie in diese ihnen nicht gemäßen Lebensbedingungen versetzt hat. Bei dem Menschen ziehen wir die entsprechenden Faktoren auch in Betracht, aber außerdem machen wir ihn selbst verantwortlich für das, was aus ihm geworden und nicht geworden ist.
II. Das spezifisch Menschliche
1. Personale Struktur
a) Verantwortung – Personalität – Ichform
Was heißt es, daß der Mensch für sich verantwortlich sei? Es heißt, daß es an ihm liegt, was er ist, und daß von ihm verlangt wird, etwas Bestimmtes aus sich zu machen: Er kann und soll sich selbst formen.
Was besagt das »Er« und das »Sich Selbst«, das »Kann« und das »Soll« und das »Formen«? Er ist jemand, der von sich Ich sagt. Das kann kein Tier. Ich blicke in die Augen eines Tieres und es blickt mir etwas daraus entgegen. Ich schaue in ein Inneres, in eine Seele hinein, die meinen Blick und meine Gegenwart spürt. Aber es ist eine stumme und gefangene Seele: in sich selbst gefangen, unfähig, hinter sich selbst zurückzugehen und sich selbst zu fassen, unfähig, aus sich selbst heraus und zu mir zu gelangen. Ich schaue in die Augen eines Menschen und sein Blick antwortet mir. Er läßt mich eindringen in sein Inneres oder wehrt mich ab. Er ist Herr seiner Seele und kann ihre Tore öffnen und schließen. Er kann aus sich selbst heraustreten und in die Dinge eingehen. Wenn zwei Menschen einander anblikken, dann stehen ein Ich und ein anderes Ich einander gegenüber. Es kann eine Begegnung vor den Toren sein oder eine Begegnung im Innern. Wenn es eine Begegnung im Innern ist, dann ist das andere Ich ein Du. Der Blick des Menschen spricht. Ein selbstherrliches, waches Ich sieht mich daraus an. Wir sagen dafür auch: eine freie geistige Person. Person sein heißt, ein freies und geistiges Wesen sein. Daß der Mensch Person ist, das unterscheidet ihn von allen Naturwesen.
b) Geistigkeit als Aufgeschlossenheit nach innen und außen
Versuchen wir zunächst die Geistigkeit zu verstehen. Personale Geistigkeit besagt Wachheit und Aufgeschlossenheit. Ich bin nicht nur und lebe nicht nur, sondern ich weiß um mein Sein und Leben. Und das alles ist eins. Die ursprüngliche Form des Wissens, die zum geistigen Sein und Leben gehört, ist kein nachkommendes, reflektierendes, in dem das Leben zum Objekt des Wissens wird, sondern ist wie ein Licht, von dem das geistige Leben als solches durchleuchtet ist. Geistiges Leben ist ebenso ursprünglich Wissen um anderes als um sich selbst. Es heißt bei