5. Die Bedeutung des materiellen Faktors für die Individualisierung der Species
Aus dem Mitwirken der materiellen Faktoren versucht man nun zu erklären, daß die Form sich nicht überall vollkommen und überall gleich auswirken kann, daß die Exemplare einer Species verschieden »ausfallen«. Das besagt der Thomas-Grundsatz: individuum de ratione materiae. (Worin die Individuen einer Species sich unterscheiden, das ist nicht aus ihrer Form zu begreifen und es ist vom Standpunkt der Form aus gesehen »zufällig«.) Hier erhebt sich freilich die Frage, was mit »Materie« gemeint sei: Es kann nicht die völlig formlose Materie sein, die ja qualitätlos ist und nichts qualifizieren kann. Die Beschaffenheit des Individuums ist aber, auch soweit sie »zufällig« ist, Qualifizierung. So muß es bereits »geformte Materie« sein, was die Beschaffenheit des Individuums mitbestimmt: das, was der Keim als materielles Ding, als Körper ist, und ebenso die materielle Beschaffenheit der Nahrungsstoffe, die er aufnimmt usw. Als weitere Schwierigkeit ergibt sich dann die Einheit der substanzialen Form: Das Ding soll alles, was es ist, durch eine substanziale Form sein; es soll nicht eine Mehrheit von Formen in ihm angenommen werden, wovon eine es als materielles Ding, eine als Organismus bestimmen würde usw. Die Schwierigkeit ist nur lösbar bei Voraussetzung einer Ordnung der geschaffenen Welt, nach der die jeweils höheren Formen die niederen als ihre Grundlage voraussetzen und ihre Gesetzlichkeit in bestimmter Weise in sich aufnehmen. Wir kommen auf diese Frage noch einmal zurück.
6. Entstehung neuer Species; Veränderung und Mischung von Formen?
Wir sind aber mit den letzten Erwägungen in unserer genetischen Betrachtung ein wenig weiter gekommen. Wir verstehen nicht nur, daß Exemplare einer Species neue Exemplare hervorbringen, sondern auch, daß die neuen Exemplare den alten nicht völlig gleichen. Die Entstehung einer neuen Species bedeutet das noch nicht. Daß eine »neue Species« entsteht, bedeutet, daß Individuen von einer Form entstehen, die in früheren Individuen noch nicht hervorgetreten ist: nicht zufällige Abweichungen von der Species, sondern Gestalten, in denen ein neues Bildungsprinzip wirksam ist. Wenn bereits das Entstehen neuer Individuen sich auf einen eigenen schöpferischen Impuls zurückführen läßt, so wäre es prinzipiell denkbar, daß die Gebilde, die auf dem Wege der Fortpflanzung entstanden sind, Träger einer auch qualitativ »neuen« Form werden; es besteht keine Notwendigkeit, die Ursache dieser neuen Qualifizierung in dem erzeugenden Individuum zu suchen. Nur wenn man glaubt, jede neue Form aus der alten ableiten zu können und zu müssen, wird es notwendig, nach Ursachen der Veränderung in dem erzeugenden Individuum zu suchen. Dafür bestehen wieder verschiedene Möglichkeiten: eine Veränderung in dem erzeugenden Individuum als Bedingung des Abweichens der neuen Form von der Reihe der vorausgehenden oder eine »Mischung« von Formen bei zweigeschlechtlicher Zeugung. Wie ist beides zu verstehen? Veränderungen macht das Individuum beständig durch, aber sie sind uns bisher nicht als Veränderungen der Form erschienen. Die Form erschien vielmehr als Prinzip, das die Veränderungen selbst regelt: In ihr fanden wir das Gesetz des Gestaltwandels, der mit der Entwicklung des Individuums verbunden ist; und von ihr hängt es ab, wie die äußeren Einflüsse aufgenommen werden und sich auswirken. Eine Veränderung der Form würde bedeuten, daß diese ganze Gesetzlichkeit selbst eine andere wird, das Individuum selbst wäre in ein anderes umgewandelt, Exemplar einer andern Species geworden. Die Vererbungswissenschaft berührt dieses Problem mit der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. Die Frage wird heute weitgehend negativ beantwortet. Man unterscheidet den »Phänotypus«, das, was vom Menschen äußerlich und in seinem ganzen erfahrungsmäßigen Verhalten in Erscheinung tritt, vom »Genotypus«, der Erbanlage, die zusammen mit den äußeren Umständen den Phänotypus bestimmt. Nur was in der »Erbmasse« enthalten ist, geht auf die Nachkommen über. Sie wird in die Keimzellen verlegt, die sich schon gleich bei Beginn der embryonalen Entwicklung von den andern Zellen absondern. Nur eine Veränderung des Lebewesens, die die Keimzellen mit angreift (eine »Mutation«), ist als Veränderung des Genotypus anzusprechen und damit als Veränderung dessen, was auf die Nachkommenschaft übergeht. Man kennt solche Veränderungen durch Einwirkung gewisser Giftstoffe, z. B. des Alkohols. Dagegen läßt das meiste, was als Veränderung im Phänotypus des Menschen auftritt (die sogenannten »Modifikationen«): Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten, alles, was sich als Ausbildung ursprünglicher Anlagen begreifen läßt, die Erbmasse unberührt und bleibt dann ohne Einwirkung auf die Nachkommen. Um feststellen zu können, was von dieser Theorie gesicherte Tatsache, was mehr oder minder begründete Hypothese ist, müßten wir alle Grundbegriffe und Methoden der Vererbungswissenschaft nachprüfen. In unserm Zusammenhang ist es nur wichtig, sich über den Sinn dessen, was mit Erbanlage gemeint ist, und über sein Verhältnis zur Species Klarheit zu verschaffen. Keimzellen sind, zunächst rein materiell verstanden, das, was vom erzeugenden Individuum auf das erzeugte übergeht: also das, worin der lebendige Gestaltungsprozeß des neuen Individuums anhebt. Die Zelle, als geformte Materie, kann nicht selbst als Form angesprochen werden. Es kann nur die Zelle, in der das Leben sich zu regen beginnt, als primäre Trägerin der Form aufgefaßt werden, als das, was zuerst Formung erfährt und der Aneignung und Organisation weiterer materieller Bestandteile dient. Es kann sodann im materiellen Aufbau des Individuums das unterschieden werden, was seiner eigenen Gestaltung zum Exemplar der Species dient, und das, was es als materielle Unterlage zur Formung neuer Individuen in sich gestaltet. Eine materielle Veränderung, die ein solches Gebilde unter der Einwirkung materieller Einflüsse erfährt (eine »Vergiftung der Erbmasse«), kann nicht als eine Veränderung der Form aufgefaßt werden. Aber sie kann das Gebilde untauglich machen, zu einem gleichwertigen Exemplar derselben Species wie das erzeugende gestaltet zu werden. Es kann lebensunfähig sein oder nur tauglich zur Formung eines Individuums von geringerer Vollkommenheit. Ebenso sind materielle Veränderungen denkbar, die als Bedingungen für die Gestaltung eines vollkommenen Gebildes dienen könnten. Diese Veränderungen würden »Verfall« oder »Aufstieg« innerhalb der Species bedeuten. Denkbar ist es wohl auch, daß eine materielle Veränderung Bedingung für die Aufnahme einer neuen Form und damit das neue Individuum Exemplar einer neuen Species wird. Diese Deutung wird besonders naheliegen, wo die Tatsache geschlechtlicher Zeugung und damit der Anschein von »Mischformen« (in der Terminologie der Vererbungswissenschaft: »Kombinationen«) gegeben ist. Die Individuen, die auf solche Weise entstehen, zeigen in ihrem »Phänotypus« (nach dem Mendelschen Gesetz) zunächst einen Mischtypus, der Züge beider erzeugenden Individuen vereint, sodann (in der 3. Generation) eine Verteilung der ursprünglichen Typen auf verschiedene Individuen. Die Tatsache, daß