Der Hirtenknabe Nikolas. Leopold Schefer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leopold Schefer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066116224
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und lächelnd ansah, als er nach treffenden Worten im Geiste suchte und endlich nur hervorstürmen konnte: Du vertauschtes Teufelskind! Du auch kein Kind! keine Tochter! Du Molch aus der Hölle! Drauf riß er sie an den Haaren nieder auf die Knie vor die Mutter, und dann auf die Knie vor dem todten Vater, dessen kalte Hand er ihr auf das Haupt legte, zum Zeichen: er habe ihr vergeben. Dann riß er sie fort und stieß sie hinaus, und schloß die Thür hinter ihr zu. Aber sie donnerte mit den Fäusten daran, daß Allen der Athem verging, sie stumm sich ansahen, dann schamvoll über sie zur Erde und falteten die Hände.

      Da trat Raimund an die Thür und rief ihr zu: O du rasendes armes Kind; o wisse: Niemand lebt, der nicht in jede Schuld verfallen kann . . . hüte du dich nur, daß dich nicht ein Anderer verführt, — ja daß du dann dein Kind nicht ermordest aus verzweifelnder Ehre: unschuldig zu scheinen! Du alberne junge, noch pipende Gans, du weißt es nicht: wer etwas verwünscht, der steht dem Verwünschten näher als Alle, die es gelassen empfinden. Haß und Verwünschung richten nichts aus, als sich selbst nur zugrunde. Doch was weißt du armes verdreht gemachtes Schaf, und sehr richtig und tüchtig verdreht, das muß man mit Thränen in Augen gestehen! — Doch dies mein Wort das soll dir keine Prophezeiung sein, nur eine Bitte um Schwester- und Mutterliebe.

      Der jüdische Doctor aber sprach: Da ist doch Moses ein anderer Mann; und sein Gebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter lieben und ehren“, ist das erste und letzte allen natürlichen Menschen, und wird die Welt ausdauern selber bei wilden Thieren, Bären und Löwen, und Kühen und Kälbern. — Und wenn, was Gott verhüten möge und zu verhüten versprochen hat, daß die Welt noch einmal losginge, so würde das Gebot als das Erste aus der Erde wieder aufwachsen in Schlangen und Geier und Alles was kreucht und fleugt. — Ihr armen Leute! Der Lichtwerth unserer Erde ist noch wenig werth; sag’ ich dazu als Astrolog.

      Die Mutter aber ging zu ihrem gestorbenen Manne, beklopfte ihm Haupt und Schulter mit der Hand, küßte ihm die Stirn und sprach dann: Wie gut haben es doch die Todten! Hier den Vater rührt solch Grauses nicht einmal zu einem Seufzer! Und über den ich nicht Thränen fand, den muß ich schon segnen — den Todten! Und wie viel wird er noch verschlafen! O, es ist auch ein Großes todt zu sein und sich nicht zu empfinden oder die Welt; denn fühlten wir Menschen die Welt noch, wären wir da selig? O Zeit, zu welchen bittern Qualen und unnöthigen Worten zwingt uns das liebe leidige Leben. Wann habe ich glückliches, ruhiges, einfaches, ja albernes Weib, wie mein weiser Mann und Rath mich oft nannte, je solche Dinge überhaupt oder nur für Andere erträumt, die ich erlebt und noch erst recht erleben soll! O meine arme Frederune! und gar erst meine arme Irmengard! . . . Mir hat einmal ein unglücklicher alter Mann gesagt, den ich trösten und beschenken wollte: „Mein gutes Kind, sagte er, da sagen sie, ohne daß es Einer gesehen hat: Gott hat die Welt geschaffen — glaube es, wer es will und kann, ich weiß und sage: Gott hat die Welt geweint! und die Sterne sind dir schimmernden Thränen aus seinen Augen, und so unzählige — er muß lange und viel geweint haben, oder er weint noch schweigend immer fort.“ Den Mann versteh’ ich erst heut, und glaub’ ihm noch morgen.

      Die Mutter war darauf ihrer Tochter, die darum immer ihr Kind noch war, weinend nachgegangen. Die Tochter war ihr zu Füßen gefallen, und hatte ihr geschworen, sie werde im Heiligen Grabe zu Jerusalem für den armen Vater beten! Und die Mutter hatte das angenommen, um sie zu schonen; denn sie fühlte ihr an, daß sie krank war, sehr krank im Kopf und darum auch im Herzen, und beruhigte sie in der Hoffnung, daß sie, als ihr letztes Kind, sie nun doch nicht verlassen und hingehen wollen werde — wo sie nicht hinkommen, nur umkommen werde.

      Aber Irmengard frug sie dagegen nur: Kann ich und du nun in der Schande mit Ehren hier bleiben? Komme du selber auch mit! Denn wie viele arme Weiber haben auch das Kreuz genommen! Und selber alte, die sich getrauen doch mit uns Kindern fortzuwatscheln und zu humpeln. — Und die Mutter schwieg. Aber sie bestellte durch den Hauswart die Brüderschaft, die das Begräbniß besorgen, aber sogleich den Sarg herbringen sollte, um den Todten, den das Volk aus Mitgefühl für einen Selbstmörder halten könnte, wenn auch gerade für einen redlichen Vater — die Nacht noch hinaus auf ihr Schloß nach der Lindenburg zu tragen oder zu fahren; sie werde ihn begleiten. Irmengard komme mit. Von dort aus wollten sie ihn still in ihre Familiengruft nach Melaten begraben.

       Der Rath.

       Inhaltsverzeichnis

      Raimund hatte seinen neuen Freund mit auf sein Zimmer genommen, und die flinke Gaiette hatte ihnen Rheinwein, grüne Becher und einen Teller Carnevalgebäck dazu hingestellt.

      Sie gingen Beide gegeneinander auf und ab und blieben zu Zeiten in der Mitte stehen, noch ohne zu reden, nur zu trinken vor erduldeter Tageserhitzung und der Erregung des Abends, während das Carneval eingelauten ward, und das lustige Volk durch die Straßen schwärmte und sang. Dem hörten sie so eine Weile zu — als sei das die Welt.

      Endlich sprach der Arzt zum Kaufherrn: Wir sind Zwei, und Ihr habt zwei Aufgaben zu lösen, schwere, schwere: Eure zwei Mädchen da zu erlösen, die ältere vom Tode geradezu, und von welchem? . . . die andere vom Kreuzzug, also so gut auch wie vom gewissen Tode. Aber die Kinder sind angesteckt. Es ist nur Feuer in sie angelegt. Sie sind krank — weiter nichts als krank. Uebernehmt Ihr die ältere zu retten, ich will die jüngste übernehmen zu heilen, und mit der stärksten Hoffnung nicht nur, sondern mit Zuversicht. Denn sagt nur kurz: seit wann sind erst Menschen nach Jerusalem gezogen? Immerfort seit Erschaffung der Welt? Oder meint Ihr, ohne rasend zu sein, daß Menschen alle Jahrtausende noch hinziehen werden — bis, wie Eure Frau Schwägerin von dem armen Lebensleider gehört: die Welt ausgeweint hat und die Augen zugeschlossen. Das ist nur ein „raptus“, eine geistige Witterungskrankheit, eine Ausbildungskrankheit des Menschen, wie die Kinder am Zahnen leiden und sterben. Die selbst in der Ausbildung begriffene Erde hat bekanntlich die ihr angestammte Pest — den Tod. Die Erde ist immer so still krank und hat ihre Krankheiten, die ihr aus dem Bauche kommen; sie hat die Wassersucht und die Feuersucht, wie die Sündfluten und die Erdbeben, Fieber und Erbrechen von Steinen und entzündetem Lavablut, uns höhern Aerzten bewiesen. So leiden die Menschen hier und da Alles mit der Erde, jetzt Dies, zu andern Zeiten Das, bis sie platzt. Für die Menschen aber besonders theile ich die Krankheiten ein in Kopf-, Oberleibs- und Unterleibskrankheiten; und der Bauch, aus dem die Träume kommen, spielt gerade die größte Rolle. Darum muß dem Bauche geholfen werden, damit sie nicht zu Kopfe steigen. Wie viel plötzlich ausbrechenden Wahnsinn, wie viel Versetzungen der Menschen in sinnlose Dinge haben alle Aerzte schon leicht im ersten Anfall gehoben, sodaß sie mit Recht und zum Heile verworrener Köpfe jetzt den Muth haben, Menschen zu heilen von irgendwelchem Glauben, wie mir ein anderer jüdischer Arzt in Spanien beschworen hat, daß er unzählige Sarazenen, Mauren, die vor Sehnsucht, ja Wuth nach dem Heiligen Grabe wiederum ihres Propheten zu pilgern . . . und von Mekka auf zeitlebens — und nach ihrem Tode also damit zugleich — ohne Rückfall glücklich curirt hat. Und da, wie ich höre, Ihr alsbald nach der Lindenburg hinauszieht — so laßt mich mit; ich will Euch die kranke Irmengard heilen, und am liebsten mit mehren Kindern zugleich in Gesellschaft; und will heimlich mir kranke Kinder werben gehen, deren Aeltern den Tod derselben sonst vor Augen sehen, und ihr ganzes Vermögen darum gäben, sie zu Hause behalten zu können, und sie nicht halten dürfen! Die ganze Geschichte ist nur eine Krankheit, die mit Thränen über Andere beginnt — und wenn die Kranken erwachen, mit Thränen über sich selber erlischt und in Reue und Beschämung erstickt — und doch sind die Kranken unschuldige Leute, wie alle Kinder unschuldig an ihrer Geburt.

      Sein Freund lächelte und sagte ihm: Thut Das, was Ihr um unsere Irmengard thun wollt; denn Euere Rede ist nicht ohne Grund der Erfahrung. Aber wie helfe ich der andern Schwester? Das letzte Mittel wäre — Gift.

      Die arabischen Aerzte, jetzt fast allein noch erst die vernünftigen auf der Erde, sprach der jüdische Doctor, haben ein Gift, wenn man es mit dem widersinnigen ungerechten Namen beschimpfen darf, das fühllos macht, selbst wenn man die Hand, das Gesicht, oder die Nase nur, in Feuer steckt — das würde sie also schmerzlos in Flammen sterben lassen oder zuvor im Kerker; aber eben „sterben“, das will sie weder jetzt im Kerker, in welchen Ihr laut des christlichen Decrets freien Zutritt