Der Hirtenknabe Nikolas. Leopold Schefer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leopold Schefer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066116224
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war; sie setzten erschöpft sich an die andere, die leere Seite des Tisches, und das nunmehrige Haupt der Familie ergriff getrost das gefährliche Blatt, und mit dem derben Vorsatze: kein Narr der Welt oder irgend Jemandes darin zu sein, überflog er es erst mit feindlichen abstoßenden Blicken, um ihm seine ansteckende oder betäubende Kraft zu benehmen, und las dann, erst leis und sätzeweise, dann immer lauter und verbitterter — der neuen Witwe und dem feuerfesten neuen Freunde die Antwort der Behörde auf des Gestorbenen Eingabe.

      Sie hatten aber eine stille Zuhörerin bekommen, die in das Haus gehörte. Denn die jüngste Tochter des gestorbenen Vaters, welche ohne Einwilligung der Aeltern das Kreuz genommen, die dreizehnjährige Irmengard, war mit ihrer Kammerjungfer Gaiette — einem französischen tüchtigen Mädchen, das hier im deutschen Lande Frohgemuth oder Frohmuthe hieß — von der großen Procession der jungen Kreuzfahrer oder Kreuzfahrtjungen und Mädchen, die sie auf den Feldern vor der Stadt gehalten hatten, jetzt Abends nach Hause zurückgekehrt und in ihrem langen Pilgerkleide, ihrer Sklawine, durch das dunkle Zimmer der Mutter in des Vaters Zimmer getreten und auf dem weichen Teppich hingeschlichen sich auf einen bequemen Lehnstuhl gesetzt, die Hände zum Beten gefaltet. Aber die Neugier: wer die fremden Männer seien, war stärker als Alles, und vom Vater hatte sie den falschen Glauben, er sitze nur so mit verbundenem Munde da, weil er Zahnschmerzen habe.

      Sie hielt ihren breitrandigen Pilgerhut auf dem Schoose, und noch erhitzt im Gesicht von dem Uebungszuge, dem Singen und dem Weinen mit der zahllosen Heerde von Knaben und Mädchen ermüdet, saß sie in ihren Locken, zum Verwundern zugleich und zum Kopfschütteln sonderbar und doch hübsch, wie eine aufbrechende Blume des Himmels in Menschengestalt mit Armen und Beinen und Nase und Augen und Ohren auf Erden, wie eine Novize der Heiligkeit da, der die Locken noch nicht abgeschnitten sind und deren Lippen noch Keinem einen Kuß gegeben haben, aber dem Kusse entgegen brennen mit aller Menschen- und Mädchenglut.

      Und so hörte die junge Irmengard, was ihr noch nie gesehener Oheim Raimund mit erschütterter Seele erst selbst erfuhr, indem er las, und zögernd Das aussprach, was überhaupt erst dadurch wahr zu werden schien, daß er es aussprach:

      — — — „Bescheid des Rathes der Hohen Zehner hiesiger freien Reichs- und Hansestadt, &c.

      — „Leider und abermals leider ist das Unglück, wie der leidige Satanas, eine so freche Person, die sich erdreistet, mir nichts dir nichts höchsten und hohen Personen wie Allergemeinsten und Aermsten an ihr Habe und Gut, ja an ihr Herz zu greifen und unser pflichtmäßigstes Bedauern, daß das in unsern Zeiten allerschmählichst und redlich geschmähte Unglück auch Euch, Ihr biederer Herr Rath und unser ehrbarstes Mitglied selbst, in Eurer Tochter das Herz uns gebrochen und im Leibe zerrissen, ja zermalmet hat. Weswegen wir Euch gebührendermaßen bedauern, da wir Euch nicht helfen können, ja nicht wollen, weil wir nicht wollen dürfen; ausgenommen wir leugneten die Schöpfung der Welt, Sündenfall und Erlösung, und hätten wenig, ja keine Furcht vor einem Weltgericht, das Gott uns Allen gnädig gebe! Amen.

      „Weswegen wir Euch denn unsere gerechte Freude bezeigen und Euch hochbeloben, daß Ihr in Eurer — hoffentlich letzten Eingabe bescheidentlichst gar nicht mehr «um das Leben» Eurer verlorenen, ja schon vorläufig verfluchten Tochter Frederune bittet, sondern blos, zugleich als menschlich oder teuflisch nicht ganz zu leugnender Großvater von mütterlicher Seite, nun ihren leider nicht ganz zu leugnenden Mutterwunsch gottergebenst uns vor Ohren bringt, daß an dem zu Gottes Ehre angesetzten heiligen Tage der Hurd: ihr armes Würmlein, ein Knäblein oder ein Fräulein, oder so Gott so gewollt: gar Zwillinge noch im Mutterleibe noch und schon mit verbrennen müssen, ohne noch schreien zu können; ihr aber zur unnatürlichsten oder natürlichsten Qual, ja Verzweiflung, indeß wir zu unserm Heil nichts mit der Natur zu thun noch zu schaffen haben, also nicht zugeben können noch wollen, weil wir, wie besagt, nicht wollen dürfen, auch wenn wir wollten, und unsere Weiber daheim uns mit Thränen gefleht, ja bedroht haben aus weiblicher Schwachheit; weil ja Eure Tochter alsdann sogleich auf der Stelle verbrannt sein wolle mit ihrem Galan, wenn und sobald sie nur das Kind geboren, gesehen, zum Himmel gehoben und redlich, ja über die Maßen beweint; ja auch stillschweigend erdulden wolle und müsse, daß es nach seiner Geburt auf den Armen seines Vaters im Rauch ersticke und die kleinen Gebeine des armen Würmleins, des armen Ururenkels der naschhaften Eva mit zu Asche verbrannt werde, weil ihm die böse sündige Welt seinen Tod sogleich zugleich an den Anfang seines Lebelchens gesetzet.

      „Diese entsetzliche Bitte ist aber die allerungewährbarste und wird der Mutter hierdurch ehrenfest abgeschlagen, welches Ihr derselben in Person zu verkünden und zu ihr in Kerker zu gehen, hierdurch Vergunst haben sollt, um sie von der Sündhaftigkeit solcher Bitte zu überführen und wo möglich ihre Seele zu retten, wenn der Glaube die alberne Natur von ihr austreibt. Darum überwindet Euch zu dem Gange eines rechtschaffenen Vaters und halb nicht zu leugnenden Großvaters und Rathes!

      „Denn wäre das Kind nicht eines, wenn auch noch so schönen, reichen und ehrlichen, wenn man so zu sagen sich herausnehmen dürfte: — aber doch Juden Kind, so hätte das Mal nichts mehr, als tausend andere Mal zu bedeuten: es wäre ein richtig eingeschriebener Himmelsbürger oder Bürgerin, und sie nur eine voreilige Mutter, die gegen Buße und Reue noch ein „vergebenes“ Weib sein könnte. Aber ein Judenkind von einer Christin ist die allergrößeste Blasphemie, eine geistige Unnatur, ein Kobold der Hölle, ein ver- und behextes Meisterstücklein des Teufels, ein sichtbarer Misbrauch der Kräfte Gottes mit Händen und Beinen, wogegen sogar ein pures Judenkind noch ein pures Engelein ist, verzeih’ uns die heilige Mutter Gottes!

      „Drum muß diese Misgeburt mit verbrennen, und muß ihr im Leibe noch lebendig mit verbrennen, damit Natur und Mutterherz durch unbeschreibliche Angst sie zur Erkenntniß ihrer unverzeihlichen Sünde zur gnadenerwerbendsten Reue bringt, und aus den Flammen sie rein in den Himmel eingeht — wenn noch!

      „Wir haben zwar hier wie in allen Städten am Rhein seit schon lange niemals ermangeln lassen, Hurde zu feiern, zu unserer Bezeigung; wie die vielen alten schwarzen Kohlen auf unserer Schädelstätte beweisen; aber in diesen neuesten und letzten Zeiten bedarf die Religion, wie eigentlich immer, einer tief und sichtbar eindringenden Erfrischung! Denn was die Augen sehen, das glaubt das Herz. Und so bleibt die Hurd festgestellt auf den Tag vor Carneval, zur Erfrischung der Seelen; und erfrischet auch Ihr Euch daran, wie wir Alle.

      „Gegeben den 10. Hornung im Jahr seit Erschaffung der Welt im 5,161sten, oder nach der neu eingeführten Jahreszahl seit Geburt unsers Herrn im Jahre 1212.“

      Wie die Mutter so über den Tisch gebeugt lag mit dem Gesicht auf den Armen, ohne vor Schrecken und Jammer nur eine Thräne vergießen zu können — wie Raimund, der Bruder des Todten — wenn ein Todter noch Bruder, Schwester, Vater und Mutter und Kinder hat und gehabt hat und noch haben kann anders als dereinst einmal vorher im wachen Leben gehabte Träume — als der Todte mit blassem Gesicht und vor der erbärmlichen Welt geschlossenen Augen starr dasaß — und indem der jüdische Arzt halb ingrimmig, halb lachend über die kindische Erde erhoben, durchdringend sann: wie da noch zu helfen sei, ja selbst durch die äußersten Mittel; indeß hatte sich die junge Tochter Irmengard, die sich zum Kreuzzuge der Kinder geweiht, erhoben, war wie eine junge Dämonin — um für die besondere Sache ein besonderes Wort zu gebrauchen — bis an den Tisch getreten, legte jetzt ihre Hand auf den Kopf ihrer Mutter und sprach erzürnt: Also Mutter, du hast mich belogen! Meine Schwester ist nicht nach Aachen gereist, sondern sitzt — und weswegen! — im Kerker der schwersten Todsünde schuldig, und unrettbar . . . das freut mich im erleichterten Herzen — denn sie ist meine Schwester nicht. Denn: wer ist meine Schwester? Und du bist meine Mutter nicht, wenn du eine Thräne über sie weinst! Denn: wer ist meine Mutter? Und der Mann da, der seine solche schuldige Tochter der so gnadenvollen seelenheilsorgenden, ja doch blos zeitlichen Strafe der heiligen Kirche entziehen will, also die Schuld und die Strafe, sich empörend, nicht anerkennt, der ist mein Vater nicht! Denn: wer ist mein Vater? Was ist er?

      Er ist todt, ein heiliger Todter! ein Vater! ihm thut kein Zahn mehr weh! riefen Alle voll Grausen zugleich sie an.

      Die begeisterte Irmengard schwieg plötzlich, schien gerührt zu werden, da sie den guten Mann anstarrte, und dennoch aus innerm grauenvollen Trotz ihr Wort wiederholen zu wollen die Lippen öffnete, indem sie die Hand mit der Geberde des Abscheus