Doch nur die »politischen Köpfe« machten sich in diesen glorreichen Stunden Gedanken über die Zukunft. Die große Masse verfiel in einen unbeschreiblichen Rausch. Als die Ordonnanzen der Jugendkohorte atemlos wie Marathonläufer die Siegesnachricht brachten, versammelte Ter Haigasun die Muchtars, die Priester und jene Lehrer um sich, die nicht unter den Kriegern waren, und zog mit ihnen an der Spitze des ganzen Volkes dem Schlachtfeld entgegen. Gabriel Bagradian hatte indessen mit Tschausch Nurhan, Awakian und den Gruppenführern die Dienstordnung für die Nacht festgelegt. Alle Zehnerschaften, die im Kampfe gestanden waren, wurden von den Männern des zweiten Grabens abgelöst. Sie durften einen Urlaub von vierundzwanzig Stunden bei den Ihren in der Stadtmulde verbringen. Tschausch Nurhan duldete es aber nicht, daß die siegreichen Truppen »wie ein Sauhaufen von Zivilisten« in das Lager heimkehrten. Unerbittlich ließ er die Müden in langer Front antreten, teilte die Glieder ab und schuf eine eindrucksvolle Marschsäule, die sich bei Sonnenuntergang unter Trommellärm und den barbarischen Rufen seines Kornetts auf die Stadtmulde hin bewegte. Doch als in der Wegmitte das Kriegsvolk auf das Lagervolk stieß, da konnte es nicht einmal dieser alte Kommißknopf verhindern, daß sich die schöne Ordnung in einen regellosen Taumel löste. In diesem Augenblick kam über Gabriel eine ganz sonderbare Abspannung. Ihm war es, als ob es drei Bagradians gebe, den traulich altgewohnten Bagradian, einen neuen Bagradian, der sich wie ein Hochstapler mit grausigen Dingen abgab, die gar nicht zu ihm paßten, und einen dritten Bagradian, den eigentlichen und wahren. Dieser aber wankte ohne Körper und ohne Heimat zwischen den beiden anderen. So betäubt war dieser wahre Bagradian, daß er die Worte gar nicht auffassen konnte, die Ter Haigasun an ihn richtete: »Nicht nur der Mut unserer Männer ... Ihr Verteidigungsplan ... Seit vielen Wochen schon ... Scharfsinnige Arbeit ... Dem wir es danken ... Die strenge Zucht hilft uns weiter ... Die Gnade verdienen ...« Gabriel Bagradian fühlte sich in der Mitte eines großen Vorgangs. Es war alles eher als ein wilder Jubel, was ihn umwogte, es war auch kein allgemeines Schluchzen, sondern eine wundersame Mischung von beidem, etwas Salzig-Süßes, aus erschütterten Tiefen hervorgeströmt. Tausend Körper drängten sich an ihn heran, sehnsüchtig, den seinen zu berühren. Weich hingehaltene Frauengesichter. Geneigte Mädchenstirnen. Alle Weiber hatten ihren Münzenschmuck angelegt, der klingelte und klapperte. Hände und immer wieder Hände, die nach den seinen haschten, und Lippen, die sie berührten. Wie überirdische Müdigkeit war das, wie Auslöschen. Ein unauflösliches Stimmengewirr dankte ihm mit hundertfachen Segenssprüchen. Er hatte sie nicht nur hinausgeführt aus dem Lande der Vertreibung, er hatte sie vor dem Tod in der Wüste bewahrt. Jetzt aber gab er ihnen eine unermeßliche Hoffnung, ja die Gewißheit des Lebens.
Eine kurze, aber ganz und gar mythologische Weihe. So mußte es gewesen sein, wenn in tiefer Vorzeit ein Stamm seinen König erkor, nicht den stärksten und rauhesten Mann, sondern einen, der schon Väter mit erinnerungsreichen Namen besaß, einen Verfeinerten, dem man nicht nahe kam, wenn man ihm nahte, einen schon Halbfremden, der selbst in der innersten Mitte außen stand, einen Unbegreiflichen, der in seiner Härte weich war und in seiner Weichheit hart. In Gabriel aber lebte keine Freude, sondern nur das Gefühl einer traumhaften Peinlichkeit. Er wußte nichts von einem besonderen Verdienst. Jeder andere Kriegsteilnehmer hätte den Damlajik in denselben Verteidigungszustand versetzt. Nicht Scharfsinn, sondern die natürliche Bodenbeschaffenheit hatte den Sieg davongetragen. Die grauen Köpfe der Muchtars schwankten vor seinem Gesicht. Auch diese widerspenstigen Bauern, die gegen ihn, den Ausländer, sich immer spröde verhalten hatten, griffen nach seiner Hand, um sie wie die Hand eines Vaters zu küssen. Dieses Händeküssen war ihm entsetzlich. Seine Rechte kämpfte einen verzweifelten Kampf. Am liebsten hätte er sie in der Tasche versteckt. Langsam zwängte er sich durch die dicke Menge. Er hatte nur ein einziges Bedürfnis, dies aber war unerträglich stark: Rasieren, waschen, sich abreiben, minutenlang, vom Kopf bis zu den Füßen und dann einen leichten seidenen Schlafanzug auf dem Körper fühlen! Immer wieder klemmte ihn die Masse fest. Immer wieder mußte er Handküsse und Danksprüche über sich ergehen lassen. Er sah sich nach Hilfe um, nach einem Gesicht, das ihn anging. Endlich entdeckte er Iskuhi. Sie war ihm von Anfang an gefolgt, hatte sich aber immer hinter seinem Rücken gehalten. Jetzt langte er nach ihr, als könnte Iskuhis gebrechlicher Körper ihn stützen. Sie sah, daß er totenblaß war, und preßte krampfhaft ihre rechte Hand unter seinen Ellenbogen, als spüre sie, daß er nach Stütze verlange.
»Juliette wartet und hat alles vorbereitet«, flüsterte sie ihm zu.
Er lauschte nicht den Worten, sondern der Berührung nach. Wie eine Blindenführerin ging Iskuhi neben ihm. Plötzlich wunderte er sich, daß heute das viele Blut und der viele Tod gar keinen Eindruck auf ihn gemacht hatten.
Im Zelte wusch sich Gabriel mit Inbrunst, nachdem einer der Dorfbarbiere ihn rasiert hatte. Juliette bediente ihn. Sie hatte das Wasser im Kessel gewärmt, in den Badetub geschüttet, das Frottiertuch zurechtgelegt und jenen Schlafanzug vorbereitet, von dem sie wußte, daß Gabriel ihn den anderen vorziehe. Während er sich abrieb, blieb Juliette vor dem Zelt. In ihrer langen Ehe hatten sie beide zu keiner Zeit die letzte Scham voreinander verloren. Die Säuberung dauerte sehr lange. Er bearbeitete seine Haut mit der harten Bürste, bis sie ganz rot wurde. Je leidenschaftlicher er in diese Tätigkeit versunken war, je unduldsamer er den heutigen Tag von seiner Haut zu striegeln suchte, um so weniger fand er sich selbst. Auch in der wunderbaren Reinheit seines Körpers, die er bald genoß, brach der »abstrakte Mensch« nicht mehr durch, als welcher er nach Yoghonoluk gekommen war. Er sah sein altes Gesicht in Juliettens kerzenflankiertem Spiegel. Und doch, in seiner Seele war etwas überdreht, unerklärlich was.
Ihre Stimme mahnte draußen leise:
»Bist du fertig, Gabriel? Darf ich hinein?«
Und sie kam, gehorsam, wie er sie noch nie gesehen hatte, ohne Selbstbehauptung, demütig, und doch wieder aus dieser Demut hervorlauernd:
»Wir wollen das Wasser hinaustragen«, sagte sie dienstfertig, ohne irgend jemand von der Dienerschaft zu rufen. Sie schleppten die Gummiwanne hinter das Zelt und entleerten sie. Gabriel spürte an Juliette eine weiche Bereitschaft. Sie war ihm in tiefer Erregung entgegengekommen, sie hatte für ihn gesorgt und es nicht geduldet, daß eine andre Hand ihm diene. Vielleicht war die Stunde jetzt gekommen, daß sich das Fremde in ihr seinem Wesen einschmolz, so wie er dort drüben in Paris seine Fremdheit ihr unterworfen hatte. Wie lange noch? fragte er sich. Denn seit dem heutigen Siege glaubte er nicht mehr an Rettung. Er verschnürte den Zelteingang. Sanft zog er Juliette aufs Bett. Sie lagen aneinandergeschmiegt, wortlos. Juliette zeigte eine neue verehrende Zärtlichkeit. Ihre Augen verhielten die Tränen nicht, als sie zitternd immer wiederholte:
»Ich habe solche Angst um dich gehabt ...«
Er sah sie mit fernem Blick an, als verstünde er ihre Sorge nicht. Wie sehr er sich auch dagegen wehrte, seine Gedanken wurden