»Bist du zufrieden, chérie? Fehlt dir nichts? Ich komme auf einen Augenblick, um nach dir zu schauen.«
»Mir fehlt nichts. Ich danke dir.«
Sie überließ ihm die noch traumbefangene Hand. Er saß eine Weile stumm neben ihr, als habe er nichts, was er mit Juliette besprechen könnte. Dann erhob er sich. Sie aber setzte sich zänkisch auf:
»Hältst du mich für so leer, für so materiell, daß du immer nur an das Äußerliche denkst?«
Er verstand sie nicht gleich. Sie aber schluchzte auf:
»Ich kann so nicht leben ...«
Sehr ernst trat er zu ihr zurück:
»Ich verstehe, daß du so nicht leben kannst, Juliette. Man kann in einer Gemeinschaft nicht leben, wenn man sich ganz abseits stellt. Du mußt etwas tun! Geh in das Lager, versuche zu helfen, sei menschlich!«
»Es ist nicht meine Gemeinschaft ...«
»Auch die meine ist es nicht so sehr, wie du glaubst, Juliette. Wir gehören weniger dorthin, wo wir herkommen, als wo wir hinwollen!«
»Oder nicht hinwollen ...«, weinte sie.
Als er fort war, raffte sich Juliette auf. Vielleicht hatte er recht. So ging es wirklich nicht weiter. Sie bat Mairik Antaram, der Arzt möge sie bei der Krankenpflege im Lazarettschuppen beschäftigen. Der Gedanke, daß Zehntausende Französinnen heute in den Verwundetenhospitälern ähnliche Dienste leisteten, half ihr bei diesem Entschluß. Bedros Altouni stutzte zuerst, dann nahm er die Hilfe an. Juliette erschien noch am selben Tage in der Scheune, an der noch immer gearbeitet wurde, mit Schürze und Haube, wie es sich gehörte. Es gab Gott sei Dank nicht allzuviel Schwerkranke auf dem Damlajik. Ein paar Fiebernde lagen in Lumpen gewickelt, auf Decken und Matten, die noch von dem großen Unwetter her steif waren! Alte Leute zumeist. Ihr knapper Atem jagte, als seien sie nach langer Verfolgung hier zusammengebrochen. Graue, dunkle Gesichter, in einem fernen Lande schon. Nicht meinesgleichen, fühlte Juliette mit einem kleinen Erbarmen und einem großen Ekel. Sie erkannte ihre innere Untauglichkeit für solchen Liebesdienst. Es kam ihr wie eine Aufhebung ihrer selbst vor. Sie ließ für die Kranken alles Bettzeug aus den Zelten kommen, das nur halbwegs entbehrlich war.
Der vierte August verlief bis Mittag nicht anders als die vorangehenden Tage. Als Gabriel am frühen Morgen mit seinem Fernglas das Tal absuchte, lagen die Dörfer so still und verödet da, daß der Gedanke nicht unerlaubt erschien, es werde sich alles glücklich lösen, der Weltfriede demnächst geschlossen werden und die Rückkehr ins Leben gesichert sein. Bagradian verließ in hoffnungsvoller Stimmung die Beobachtungskuppe und ging von Abschnitt zu Abschnitt, um Arbeit und Dienst der Zehnerschaften überraschend zu visitieren. Zufrieden begab er sich gegen Mittag auf seinen Kommando-Standort. Wenige Minuten später stürzten von allen Seiten die jugendlichen Späher heran. Meldung: Auf der Straße von Antiochia nach Suedja große Staubwolken. Viele, viele Soldaten! Vier Abteilungen. Dahinter Saptiehs und eine große Menschenmenge. Sie biegen eben in das Tal ein und marschieren schon durch das erste Dorf Wakef. Gabriel Bagradian bestieg den nächsten Späherpunkt in größter Hast und stellte folgendes fest: Die Marschkolonne einer kriegsstarken Infanteriekompanie zog die Dörferstraße entlang. Er erkannte die reguläre Truppe sofort an dem berittenen Hauptmann, der sie führte, und den vier in Abständen marschierenden Zügen, die in leidlich taktsicherem Gleichschritt vorwärtszuschwanken schienen. Es mußte demnach ausgebildetes, vielleicht sogar kriegserfahrenes Militär sein, das in den Kasernen von Antakje lag und zu Dschemal Paschas neu aufgestellter Armee gehörte. Erst weit hinter der Kompanie zottelten etwa hundert Saptiehs, während das Gesindel der Ebene, der menschliche Schwemmsand von Antiochia, zu beiden Seiten der Marschkolonne einherstaubte. Der Aufmarsch dieser Streitmacht von fast vierhundert Gewehren (die Saptiehs mit eingerechnet) war so gottverlassen ahnungslos im offenen Gelände durchgeführt, daß Gabriel lange dem Glauben zuneigte, die Truppe habe ein anderes Ziel. Erst als nach einer kleinen Rast und Offiziersberatung die Kompanie hinter Bitias gegen Nordwesten auf den Berg zuschwenkte, wurde es klar, daß der Feldzug den geflüchteten Dorfgemeinden galt. Entweder hatten sich Angeber aus den Nachbarortschaften gefunden, die der Lärm des Holzfällens über die Wahrheit belehrt hatte, oder war Harutiun Nokhudian so lange gefoltert worden, bis er den Aufenthalt seiner Landsleute verriet. Wie dem auch sei, die Türken schienen zu vermuten, daß ihrer eine gewöhnliche Polizeiaufgabe harre, harmloser noch als die bekannte Deserteurjagd, und daß es sich nur um ein Freilager armseliger Bergbewohner handle, das aufzustöbern, zu umzingeln und ins Tal hinabzutreiben sei. Angesichts dieser Aufgabe mußten sie sich unendlich stark vorkommen, und sie waren es auch, wenn man bedenkt, daß die Armeniersöhne nur dreihundert gute Gewehre besaßen, wenig Munition und fast keine ausgebildeten Soldaten. Bereits als die Kompanie Yoghonoluk erreicht hatte, ließ Gabriel Bagradian den großen Alarm durchführen, wie er ihn täglich mit Zehnerschaften und Lager geübt hatte. Die Münadirs, die Ausrufer, trommelten die Stadtmulde zusammen. Die Ordonnanzgruppe der Jugendkohorte stob über die ganze Hochfläche, um den Abschnittsführern die Befehle zu überbringen. Einige der halbwüchsigen Kundschafter wagten sich bis ins Tal vor, um die Gliederung und Bewegung des Feindes auszuforschen. Ter Haigasun, die sieben Muchtars, die älteren Mitglieder des Führerrates blieben inmitten des Lagervolkes, wie es verabredet war. Keiner wagte mehr zu atmen. Selbst den Säuglingen blieb das Lallen und Greinen im Halse stecken. Die Männer der Reserve umscharten, mit Äxten, Hacken und Spaten bewaffnet, in einem weiten Ring das Lager, um im Notfall bereit zu sein. Gabriel stand mit Tschausch Nurhan und den Unterführern beisammen. Der Fall war völlig vorgesehen. Da es sich aber um den ersten Kampf handelte und da kein anderer Verteidigungspunkt unmittelbar gefährdet war, so ließ er in den Nebenstellungen nur die notwendigste Besatzung zurück und warf alle verfügbaren Zehnerschaften in die Gräben des Nordsattels. Das System hatte vier Linien. Der Hauptgraben vor allem, der auf der kupierten Höhe der linken Sattellehne den Damlajik absperrte; einige hundert Meter dahinter der zweite Graben längs einer Bodenwelle; an der Stirnseite des Berges ferner der Graben der Flankensicherung mit vorgeschobenen Schützennestern; und auf der Meerseite endlich die glückhaft unübersehbare Barrikade aus zerrissenen Kalkfelsen. Den ersten Graben bezogen ungefähr zweihundert Mann, die besten Gewehre und voraussichtlich besten Kämpfer. Den Befehl über diesen Graben übernahm Bagradian selbst. Er hatte übrigens weder Sarkis Kilikian noch einen der anderen Deserteure unter diese Besatzung aufgenommen. Einen Teil der Elitezehnerschaften legte er unter dem Kommando Tschausch Nurhans in die Felsbarrikaden. In dem zweiten Graben standen weitere zweihundert Mann für den Fall einer unglücklichen Wendung bereit. Jeder Kämpfer erhielt drei Patronenmagazine, also nur fünfzehn Schuß. Bagradian legte den Männern ans Herz:
»Keine Kugel umsonst! Sollte der Kampf auch drei Tage dauern, jeder muß mit seinen drei Magazinen auskommen. Spart, sonst sind wir verloren. Und das Allerwichtigste! Das Feuer wird nur auf meinen Befehl eröffnet! Ihr habt mich alle anzuschauen! Wir müssen die Türken, die von uns nichts wissen werden, bis auf zehn Schritt herankommen lassen. Und dann ruhig auf die Köpfe zielen, und ruhig schießen! In der nächsten Stunde wollen wir hier auf dem Damlajik das Verbrechen an unserem Volke rächen, in der nächsten Stunde wollen wir den Türken beweisen, daß wir in unserer Schwäche ihnen noch hundertmal überlegen sind. Und jetzt denke jeder von euch an das Gräßliche, das sie uns angetan haben, und sonst an nichts!«
Während Gabriel Bagradian sprach, klopfte ihm das Herz bis in die Rede hinein, so daß er sich zusammennehmen mußte, damit niemand etwas merke. Es war nicht nur die tiefe Erregung, die jeden Mann vor einem Feuergefecht packt, es war das Bewußtsein des Ungeheuerlichen, des ganz und gar Wahnsinnigen, das er mit seinem lächerlichen Haufen gegen eine Weltarmee wagte. Trotz seiner aufpeitschenden Worte aber lebte jetzt in seinem wallenden Blut keine Spur von jenem Haß und Rachedurst gegen die Türken, den er soeben den Kämpfern gepredigt hatte. Es war die ganze unpersönliche