Die türkischen Soldaten füllten nach und nach vom Aufstieg erschöpft, in aufgelöster Marschordnung, die Sattelkerbe. Der kommandierende Hauptmann schien wirklich tief davon durchdrungen zu sein daß es sich um keine militärische, sondern lediglich um eine polizeiliche Unternehmung handle, sonst hätte er gewiß nicht die primitivsten Vorsichtsmaßregeln außer acht gelassen, welche die Anfangsgründe der Taktik für eine Truppe im feindlichen Gelände vorschreiben. Durch keine Patrouillen, keine Vor-, Seiten- und Nachhut gesichert, hatte sich ein planloses Durcheinander von plappernden, lachenden, rauchenden Infanteristen im Sattelgrund versammelt, um sich von der Bergbesteigung zu erholen.
Tschausch Nurhan kroch im Graben zu Gabriel Bagradian und suchte ihn, scharf flüsternd und gestikulierend, zu überreden, die Türken von allen Seiten zu umgehen und abzuschneiden. Gabriel preßte aber, mit verzerrtem Gesicht, seine Hand auf Nurhans Mund und versetzte ihm einen Stoß. Der Kompaniehauptmann, ein dicker, gemütlicher Herr, hatte seine Fellmütze mit dem Halbmond abgenommen und wischte sich den Schweiß ab, der ihm von der Stirn strömte. Die jungen Zugsoffiziere versammelten sich um ihn. An Hand einer kleinen Kartenskizze begannen alle, ziemlich unmilitärisch, über den mutmaßlichen Aufenthalt der Armenier zu streiten. Glühende Ewigkeiten vergingen für Bagradian. Der ausgepumpte Hauptmann nahm sich nicht einmal die Mühe, einen höheren Punkt zu ersteigen, um das Terrain zu prüfen. Endlich ließ er seinen Trompeter das Signal zur Vergatterung blasen, und zwar in schallenden Wiederholungen, wohl um dem Armenierlager den Schreck des Gerichts in die Glieder zu jagen. Die vier Züge nahmen in entwickelter Linie, zwei Glieder tief, Aufstellung, alles wie auf dem Kasernenhof. Die Chargen sprangen vor die Front und machten den Offizieren Meldung, die Offiziere traten mit gezogenem Säbel vor den Hauptmann, um ihrerseits Meldung zu machen. Gabriel prägte sich das Gesicht des Kompanieführers nicht ohne Sympathie ein. Es war ein breites freundliches Gesicht mit einer goldgefaßten Brille, die auf der Nasenmitte saß. Nun zog auch der Hauptmann den Säbel und kommandierte mit einer hohen und schwachen Stimme: »Bajonett auf!« Die Gewehrgriffe klapperten. Der Hauptmann ließ seinen Säbel über dem Kopf kreisen und zeigte dann mit der Spitze auf die armenische Sattellehne: »Erster, zweiter Zug in Schwarmlinie, mir nach!« Der rangälteste Zugsoffizier wies mit dem Säbel in die entgegengesetzte Richtung und echote: »Dritter, vierter Zug in Schwarmlinie, mir nach!« Die Türken hatten demnach nicht einmal Klarheit darüber, ob sich das Flüchtlingslager auf dem Damlajik oder auf den nördlichen Höhen des Musa Dagh befand. Die Armeniersöhne standen bis zur Herzhöhe im Graben. Die aufgeworfene Böschung davor, in deren Scharten die Gewehre auflagen, war unsichtbar gemacht, ebenso die ausgehauenen Sichtlinien im Buschwerk und Knieholz, das die Lehne übersäte. In breiter Schwarmlinie strebten die nichtsahnenden Türken die Höhe empor. Der erste Graben war so glänzend maskiert, daß er nur von einem weit höheren Standpunkt wäre einzusehen gewesen, diesen aber gab es nicht, außer in den höchsten Baumwipfeln der Gegenhöhe. Gabriel Bagradian hob die Hand und zog alle Augen an sich. Die Türken kamen in dem Gestrüpp nur langsam vorwärts. Der Hauptmann hatte sich eine neue Zigarette angezündet. Plötzlich stutzte er und blieb stehn. Was bedeutete dieser Erdaufwurf dort? Erst nach einigen Sekunden durchblitzte es ihn, das ist ein Schützengraben. Diese Tatsache aber schien ihm so unglaubwürdig zu sein, daß er noch einmal Zeit verstreichen ließ, ehe er aufbrüllte: »Nieder! Deckung suchen!« Zu spät. Der erste Schuß war bereits gefallen, und zwar ehe Bagradian noch die Hand gesenkt hatte. Die Armenier schossen bedächtig und sicher, einer nach dem anderen, ohne jede Erregung. Sie hatten Zeit zum Zielen. Jeder wußte, daß keine einzige Patrone verschwendet werden dürfe. Da ihre Opfer nur wenige Schritte von ihnen entfernt in völliger Betäubung erstarrt waren, ging auch kein einziger Schuß verloren. Der dicke Hauptmann mit dem gutmütigen Gesicht brüllte noch einigemal: »Nieder! Decken!« Dann schaute er unendlich erstaunt zum Himmel auf und setzte sich hin. Die Brille fiel ihm von der Nase, ehe er zur Seite sank. Jäh löste sich der Bann von den türkischen Soldaten. Sie flüchteten, wild schreiend, in den Sattel hinab, viele Tote und Verwundete zurücklassend, darunter den Hauptmann, einen Zugsoffizier und drei Onbaschis. Gabriel schoß nicht. Ihm war plötzlich leicht und schwebend zumute. Die Wirklichkeit um ihn wurde so unwirklich, wie sie es in ihren wirklichsten Verdichtungen immer ist.
Die Türken brauchten sehr lange, um sich zu erfangen. Die Offiziere und Unteroffiziere hatten schwere Mühe, die Flucht aufzuhalten. Sie mußten mit flacher Säbelklinge und Gewehrkolben die Jammernden zurückjagen. Inzwischen wurden die beiden Züge, die vom Feuer nichts abbekommen hatten, vorgetrieben. Doch anstatt zuerst eine wirksame Angriffslinie zu finden, suchte die neue Schützenreihe an den ungeeignetsten Punkten hinter Büschen und Steinblöcken Deckung, ohne auch nur die Ahnung des Armeniergrabens vors Korn zu bekommen. In die Sträucher und Legföhren entlud sich ein sinnlos tolles Geknatter und Geknalle, das nicht den geringsten Schaden anrichtete. Nur manchmal sang ein Geller über die Köpfe der Verteidiger hinweg. Gabriel Bagradian ließ folgenden Befehl den Graben entlang laufen:
»Nicht schießen! Gut decken! Warten, bis sie wiederkommen!«
Zugleich sandte er in die Seitenstellungen Botschaft, wer es wage, einen Schuß abzugeben oder auch nur sein Gesicht zu zeigen, werde als Verräter behandelt werden. Kein Türke dürfe vom Vorhandensein der Sicherungsriegel die leiseste Ahnung haben. Die armenische Sattellehne lag ausgestorben wie vorher. Die Verteidiger schienen durch das rasende Türkenfeuer alle ums Leben gekommen zu sein. Nach einer Stunde dieser wüsten Munitionsverschwendung versuchte die Kompanie in vier tollkühnen Wellen einen neuen Sturm. Die Armenier, jetzt noch weit sicherer als das erstemal, ließen die Wellen wieder nahe herankommen, ehe sie ihnen abermals den Untergang bereiteten, noch blutiger und entsetzlicher als früher. Jetzt konnten die Chargen der Flucht nicht mehr Halt gebieten. Im Nu war der Sattel leergefegt. Nur das Zetern der Verwundeten stieg aus dem Unterholz. Schon wollten einige der Armeniersöhne aus dem Graben klettern. Bagradian brüllte sie an, niemand habe Befehl erhalten, seinen Posten zu verlassen. Nach einiger Zeit wagten sich türkische Sanitätsmänner mit Tragbahren zwischen den Bäumen vor und begannen mit einer Rotenmondfahne zu winken. Gabriel Bagradian schickte ihnen Tschausch Nurhan ein paar Schritte entgegen. Dieser machte Zeichen, daß sie herankommen möchten. Dann schrie er ihnen zu:
»Die Toten und Verwundeten könnt ihr mitnehmen. Gewehre, Munition, Tornister, Patronentaschen, Brotbeutel, Montur und Stiefel bleiben hier!!«
Daraufhin waren die Sanitätssoldaten unter Drohung der auf sie gerichteten Läufe gezwungen, die Toten und Verwundeten bis auf die Unterkleider auszuziehen und das Geforderte in schmählichen Haufen liegenzulassen. Nachdem sie dann mit den Opfern verschwunden waren – es dauerte lange Zeit, weil sie immer wiederkehren mußten –, waren alle Kämpfer, einschließlich Tschausch Nurhans, der Meinung, der Angriff sei vollkommen abgeschlagen und kein neuer Ansturm zu erwarten. Gabriel hörte auf diese verführerischen Stimmen nicht, sondern befahl Awakian, die besten Burschen aus der Kundschaftstruppe der Jugend vorzuschicken und einen Teil der Ordonnanzgruppe antreten zu lassen. Letztere erhielt den Auftrag, die erbeuteten Gewehre, Tornister, Magazine und Uniformen in größter Eile einzusammeln und hinter die Linie zu bringen. Unter den Spähern suchte er vier der geschmeidigsten aus. Sie mußten der Kompanie folgen, um ihre Bewegungen genau zu beobachten. Ehe die Ordonnanzen noch mit dem Einsammeln fertig waren, kehrte Haik, ein Junge, der nur wenig älter als Stephan zu sein schien, bereits mit der Meldung zurück, ein Teil der Türken erklettere weiter oben im Norden den Berg, an einer Stelle, wo doch gar nichts zu finden sei.
Es konnte sich nur um einen Umgehungsversuch von der Meerseite her handeln. Darüber war sich nach dieser Meldung nicht nur Gabriel Bagradian klar, sondern auch Tschausch Nurhan und andere. Gabriel übergab das Kommando dem verläßlichsten Gruppenführer und verließ mit Nurhan den Graben. Sie kletterten zu den kampfgierigen Männern, die hinter den Felsbarrikaden standen. Die Kinder des Musa Dagh kannten jeden Block, jeden Vorsprung, jede Grotte, jeden Strauch, jede Agave auf diesem nackten zerfressenen Kalkgefelse, unterhalb dessen die zerrissenen Steilwände jäh oder stufenweise oft zwei- und dreihundert Meter tief ins Meer stürzten.