Als aber eine Stunde später Rifaat Bereket bei ihm im Zimmer sitzt, hat er den Vorfall mit dem Auto schon vergessen. Der Agha mit seinem Turban und seinem langen blauen Mantel paßt nicht gut in solch ein europäisches Hotelzimmer. Er paßt nicht auf einen harten Holzstuhl und unter das kalte Licht der Glühbirnen. Lepsius erkennt, daß dieser alte Mann, der Kalif des Scheichs der Herzensdiebe in Syrien, ein großes Opfer bringt. Er bittet ihn, fünfhundert Pfund von den deutschen Hilfsgeldern entgegenzunehmen und sie womöglich für die Männer vom Musa Dagh zu verwenden. Der Pastor geht nicht, wie vielleicht mancher annehmen könnte, leichtsinnig vor. In diesen kleinen leuchtenden Händen, das sieht er, ist dieses Geld sicherer und zukunftsreicher aufgehoben als bei den ohnmächtigen Konsulaten und Missionen. Vielleicht kann es das erstemal seiner Bestimmung voll zugeführt werden. Rifaat Bereket füllt mit der umständlichsten Schriftmalerei der Welt einen großen Bogen als Empfangsbestätigung aus. Er überreicht ihn feierlich dem Deutschen:
»Ich werde dir in einem Brief genauen Bericht über meine Einkäufe geben.«
»Und wenn es dir nicht gelingt, die Waren auf den Berg zu bringen?«
»Ich bin mit guten Papieren ausgerüstet ... Fürchte nichts! Was zurückbleibt, werde ich in anderen Transportlagern aufteilen. Auch darüber wirst du Bestätigungen erhalten.«
Johannes Lepsius bittet den Agha zuletzt, seine Briefe an Nezimi Bey zu richten. Dies sei sicherer. Er möge um Allahs Barmherzigkeit willen dafür sorgen, daß dieser neue Weg offenbleibe.
Ich bin vielleicht nicht vergebens nach Stambul gekommen, weiß Johannes Lepsius, als er den Agha auf die Straße geleitet hat und in sein Zimmer zurückkehrt. Irgend etwas ist in dem kleinen Raum von dem frommen Gaste übriggeblieben, eine tiefere Ruhe als vorher. Im Bewußtsein, daß sein Werk heute einen großen Fortschritt gemacht hat, legt sich der Pastor zu Bett. Jetzt aber beginnen die Gestalten aus dem Tekkeh mächtig zu werden und bedrängen ihn mit ihren Augen und Gesichtern, mit ihren Worten und Gebärden. Er hat es vorher gar nicht so deutlich gewußt, wie überlebensgroß diese Persönlichkeiten waren, denen er heute begegnen durfte: Scheich Achmed, sein Sohn, der Türbedar. Er verliert sich in lange Disputationen mit ihnen, die ihm endlich den Schlaf bringen. Doch der Schlaf dauert nicht lange. Mitten in der Nacht weckt ihn ein dumpfes Dröhnen. Die Fensterscheiben klirren so eigenartig. Lepsius kennt dieses Klirren. Die Schiffsgeschütze der englisch-französischen Flotte hämmern um Einlaß. Er setzt sich im Bett auf. Seine Hand tastet nach dem Lichtschalter. Sie findet ihn nicht. Es ist wie ein schrecklicher Stich im Herzen. Hat Nezimi nicht von ihm gefordert, er solle seine kleinen Erlebnisse genau beobachten? Sie könnten eine besondere Bedeutung haben. Das Attentat auf Enver und Talaat! Es war keine leere Täuschung, sondern ein Gesicht, das mit Scheich Achmeds Kraft zusammenhing. Johannes Lepsius möchte seine Augen vor dem gottverboten starrenden Abgrund schließen, der vor ihm klafft. Tiefe Furcht erfüllt seinen Geist. Hat er einen Blick in die Zukunft getan oder ist er nur einem dunklen mörderischen Wunschgedanken erlegen? Das Geschützfeuer murrt. Die Scheiben klirren. Unsinn, Unsinn, will er sich einreden. Doch seine fiebernde Seele ahnt, daß der Herr im Himmel die Gerechtigkeit wiederhergestellt hat, noch ehe sie gebrochen war.
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