»Gabriel Bagradian! Wir wünschen alle, daß Ihre Frau mit dem Leben davonkommt, wenn uns hier früher oder später das Ende ereilt. Möge sie dann in Frankreich von uns Freundliches sprechen!«
Juliette bewohnte das eine der Expeditionszelte. Im zweiten hatte sie Iskuhi und Howsannah untergebracht, die melancholisch-angstvoll ihrer Zeit entgegensah. Im Scheichzelt, das zur Hälfte als Gepäck- und Vorratskammer diente, waren drei Lager aufgeschlagen. In dem einen Bett schlief Stephan, das zweite gehörte Samuel Awakian, der aber als Adjutant und Generalstäbler die Nacht immer in der Nähe Bagradians verbrachte. Da dieser ausdrücklich und mit schroffem Ton auf jede Bequemlichkeit verzichtet hatte, stellte Juliette das dritte Bett im Scheichzelt Gonzague Maris zur Verfügung. Sie fühlte sich dem jungen Menschen für die bescheidene Art von Aufmerksamkeit verpflichtet, mit der er sie besonders seit den letzten Unglückstagen umgab. Er hatte Gabriel das Leben gerettet. Überdies war er der einzige Europäer neben ihr auf dem Damlajik. In manchen Augenblicken wurde die Zwangsverwandtschaft zwischen beiden so stark, daß sie einander ansahen wie zwei Verschworene, ja wie zwei Gefangene in demselben Kerker. Während Juliette einen gefährlichen Hang verspürte, sich gehenzulassen, war Gonzague nach wie vor wie aus der Schachtel gekleidet. Sie überraschte ihn manchmal, wie er mit peinlicher Genauigkeit vor dem Zelte seinen Anzug bürstete, einen abgerissenen Knopf annähte oder die Schuhe putzte. Seine Nägel waren sauber, seine Hände gepflegt, er rasierte sich, im Gegensatz zu Gabriel, an jedem Morgen. Niemals aber erweckte diese eingehende Beschäftigung mit seinem Selbst den Eindruck einer besonderen Eitelkeit. Es schien weit eher ein tätiger Abscheu vor aller Ungenauigkeit und Unsauberkeit zu sein. Ein Fleck auf dem Gewand, ein Schmutzspritzer auf den Schuhen konnten Gonzague unglücklich machen. Es war, als ertrage sein Wesen nichts Dumpfes, nichts Unbewußtes, als müsse er alles in das Licht des Willens und einer eigenartigen Zweckhaftigkeit heben, um überhaupt leben zu können. Sie sah in seiner Lebensart, die sich von den Umständen nicht beugen ließ, eine vorbildliche Haltung, die ihr eine gewisse Bewunderung abnötigte. Um so weniger verständlich war ihr Gonzagues gleichmütiger Entschluß, das todgewärtige Los eines fremden Volkes zu teilen. Ein oder zwei flüchtige Andeutungen; welche die Möglichkeit offenließen, der Entschluß sei um ihretwillen gefaßt, hielt sie für kalte Galanterien. Gonzague hatte sie nicht ein einziges Mal etwas anderes als die liebesferne Verehrung fühlen lassen, die ein junger Mann einer Dame zollt, in der er infolge des Lebensabstands das Weib nicht sieht. Obgleich Gonzague manche Stunde des Tages in Juliettens Nähe verbrachte, kam es zwischen ihnen niemals zu einem Gespräch, das über das Sachliche und Gegenwärtige hinausging. Sie wußte von seinem Vorleben noch immer so gut wie gar nichts. Die merkwürdige, gespannte Aufmerksamkeit, die in seinen Augen unter den stumpf gegeneinandergestellten Brauen lag, schien nur auf die Minute gerichtet zu sein. Doch gerade dieses fehlende Vorher und Nachher in Gonzagues Wesen weckte Juliettes unruhige Neugier, wenn sie ihn sah. Als er sich einmal einen halben Tag lang nicht gezeigt hatte, forschte sie ihn aus:
»Haben Sie schon mit den Aufzeichnungen über unser Leben begonnen?«
Er schaute sie erstaunt und fast ein bißchen spöttisch an:
»Ich mache mir niemals Notizen. Das einzige Talent, das ich wirklich besitze, ist mein Gedächtnis. Ich werde es nicht nötig haben, schmutzige Papiere und Zettel zu retten.«
Die Sicherheit des jungen Menschen ärgerte Juliette:
»Es fragt sich nur, ob Sie Ihren Kopf mit dem dazugehörigen Gedächtnis werden retten können?«
Er lachte kurz auf, aber es war nur der Ausdruck einer ernsten Überzeugung:
»Sie glauben doch nicht, Juliette, daß mich türkisches Militär oder etwas anderes zurückhalten wird, den Berg zu verlassen, wenn ich es wirklich will.«
Der Ton und Inhalt dieser Antwort war ihr unangenehm. Die abwartende Festigkeit, die Gonzague so oft zeigte, stieß sie ab. Doch gab es auch Augenblicke, wo er ganz verloren und kindlich sein konnte. Dann quoll ein mütterliches Mitleid in ihr auf, das ihr selbst wohltat.
In der Nähe des Dreizeltplatzes, jenseits der Buchengruppe, hatten Kristaphor und Missak einen Tisch mit Bänken aufgestellt. Dieses Plätzchen sah so reizend aus, als befände man sich im abgelegenen Teil eines Gartens, jedenfalls aber im umhegenden Kreis der Kultur und nicht auf einer unwegsamen Bergeshöhe. Hier saß am Nachmittag Juliette mit Iskuhi und Howsannah und empfing ihre Gäste. Es fand sich meist dieselbe Gesellschaft zusammen wie unten in der Villa Bagradian. Apotheker Krikor erschien regelmäßig und die Lehrer, wenn es ihr Dienst erlaubte. Hapeth Schatakhian stellte sich ein, um, wie er selbst gestand, Madame durch seine wohlbetonten Causerien in französischer Sprache zu erfreuen. Hrand Oskanian aber kam nun weniger als Meister der Dichtkunst und Schönschrift als in Gestalt eines beunruhigenden Kriegers. Bei Gelegenheit dieser Besuche trug er noch immer seinen graugeschwänzten Lordsrock, darunter aber das Bajonettschwert an einem Überschwung, aus dem noch die gewichtige Sattelpistole hervorlugte; er legte das Gewehr ebensowenig aus der Hand, wie er seine dräuende Lammfellmütze lüftete. Dennoch aber brachte er noch immer Geschenke mit, einen Strauß von wilden roten Orchideen oder eine genau strichlierte Schullehrerzeichnung, die er vor Juliette hinknallte, als sei sie nur ein nichtiger Vorschuß für künftige, blutigere Gaben des Krieges, Türkenköpfe oder abgehackte Feindeshände. Die Penetranz des schwarzen Knirpses wurde nachgerade unerträglich. Er schwieg durchdringend, Juliette mit gehässig leidenschaftlichen Blicken verzehrend. Mit diesen Sturmangriffen des Schweigens hatte es jedoch leider nicht mehr