Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835550
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über die Tagesereignisse unterhielt und aller möglichen Männer und Leistungen lobend Erwähnung tat, nur Oskanians nicht, sprang dieser unvermittelt auf und kehrte sein wutschäumendes Gesicht Gonzague Maris zu, der in einem alten Band der »Illustration« aus Krikors Besitz blätterte:

      »Der Herr hat in Gegenwart von Madame über mich gelacht!«

      Maris klappte das Buch zu und sah den Rasenden mit liebenswürdiger Verwunderung an:

      »Ich habe über eines dieser Bilder gelacht und nicht über Sie, Lehrer Oskanian, obgleich Sie wirklich dazu herausfordern.«

      Oskanian packte sein Gewehr und schrie:

      »Wir werden sehen, wer hier zu lachen hat! Ich bin ein Führer, und der Herr ist nur ein geduldeter Nichtstuer unter uns. Auch ich denke mir mein Teil!«

      Ohne Gruß stürmte er davon. Krikor machte eine müd entschuldigende Handbewegung:

      »Er möchte immer mehr sein als er ist. Morgen kommt er wieder.«

      Der Apotheker, der seine Jünger kannte, hatte richtig prophezeit. Er selbst aber, der Sokrates von Yoghonoluk, schien die tragische Aufstörung seines beschaulichen Lebens überwunden zu haben. Schon vom zweiten Tage des Musa Dagh angefangen befleißigte er sich, wie es einem Weisen geziemt, des gleichen Daseins wie früher. Das Bocksbärtchen unter seinem gelbglatten Gesicht wippte wieder gleichmäßig rhythmisch, wenn er aus dem unerschöpflichen Meer seines Wissens unkontrollierbare Zitate holte und Pflanzen, Steine und Elemente mit eigensinnigen Namen und Formeln bedachte. Und doch, der alte unerbittliche Eifer in Krikors Belehrungen war abgestorben und hatte einer beängstigenden Abgeklärtheit Platz gemacht.

      Unter den Nachmittagsgästen Juliettens tauchten aber nicht nur die genannten Herren auf, sondern auch die Frauen der Notabeln. Mairik Antaram, die Ärztin, kam, wann sie nur Zeit hatte, die Muchtarin Kebussjan seltener, dafür aber um so mehr mit unersättlicher Neugier geladen. Die Kebussjan wollte alles sehen und bat Juliette flehentlich, sie in die Wohnstätten zu führen und ihr die Einzelheiten und Geheimnisse des Dreizeltplatzes zu zeigen. Mit überschwenglichen Lobsprüchen bedachte sie dann den Küchenherd, den Howhannes aus Steinen und mitgebrachten Herdplatten meisterhaft gesetzt und für alle Arten des Kochens, Bratens und Backens eingerichtet hatte. Sie bewunderte die leichten und weichen Betten in den Zelten, die zusammenlegbaren Möbel, die Gummitubs, das Tafelgeschirr, die reichen Gepäckstücke. Mit tiefster und anhaltender Ergriffenheit steckte die Muchtarin ihre Nase in die Vorratskisten und begutachtete die Sardinenbüchsen und Konserven, den Zucker und die Seife. Juliette konnte diese würdige Dame mit den suchenden und winkeldurchhuschenden Mausaugen nur loswerden, indem sie ihr aus diesen Vorräten ein Präsent verehrte, eine Tafel Schokolade oder eine Konserve. Frau Kebussjans Dank und Treueversicherungen nahmen dann die Ausmaße ihrer Lobsprüche an. Mairik Antaram hingegen brachte jedesmal selbst eine Kleinigkeit, ein Töpfchen mit Honig oder ein Stück Aprikosenleder, jenes bräunlichrote Fruchtgelee, das einen besonderen Frühstücksleckerbissen der armenischen Dörfer vorstellt. Frau Altouni übergab ihr diese Geschenke heimlich:

      »Wenn sie fort sind, Djanik, mein Seelchen, iß das, es ist gut. Du sollst bei uns nichts entbehren ...«

      Oft aber sah Mairik Antaram mit ihrem kühnen und gar nicht wehleidigen Gesicht Juliette sehr traurig an:

      »Wärst du doch geblieben, wo du warst, Schönste!«

      Iskuhi Tomasian war auf dem Damlajik weniger mit Juliette beisammen als im Hause in Yoghonoluk. Das Mädchen hatte an Ter Haigasun die Bitte gerichtet, als Hilfslehrerin der Schule zugeteilt zu werden, welchem Wunsche der Priester gerne willfahrte. Juliette ihrerseits war diesem Entschlusse mißbilligend gegenübergestanden:

      »Du hast dich bei uns kaum ein bißchen erholt und willst dich jetzt plagen? Wozu? Hat das in unserer Lage den leisesten Sinn?«

      Mit Iskuhi erging es Juliette noch immer sonderbar. Durch die tatkräftige Güte, die sie ihr vom ersten Augenblick an erwiesen hatte, schien sie nach der eigensinnigen Scheu nun auch die dienende Willigkeit überwunden zu haben, hinter der sich das Mädchen versteckte. Seit einigen Wochen schon erwies ihr Iskuhi gewisse äußere Zärtlichkeiten. Beim Morgen- und Abendgruß umarmte und küßte sie die ältere Freundin. Juliette aber spürte deutlich, daß diese Zärtlichkeiten nur Nachahmungen und Anpassungen waren, etwa so, wie jemand bestimmte Formeln einer unbekannten Sprache gebraucht, ohne sie genau zu verstehen. Das Harte in Iskuhi, der innerste Kristall, das Unbesieglich-Fremde blieb ungeschmolzen. Es läßt sich nicht verhehlen, daß Juliette unter der Uneinnehmbarkeit dieser Seele litt, da sich jede Verwundung ihres Machtgefühls sogleich gegen ihr eigenes Selbstbewußtsein wandte. Auch die Sache mit der Schule bedeutete eine Art Niederlage für sie. Iskuhi verbrachte nun viele Stunden des Tages auf der sogenannten Schulhalde, die weitab vom Dreizeltplatz lag. Es gab eine große Klassentafel, eine Rechenmaschine, eine Landkarte des ottomanischen Reichs und eine stattliche Menge von Fibeln und Lesebüchern. War es nicht ein Sinnbild für dieses Volk, daß es in der Bedrängnis der Flucht nicht vergessen hatte, die Lehrmittel für seine Kleinen mitzunehmen? »Mutter Erde umherzt das gebildete Kind!« Mehrere hundert Rangen, ein ganzes Heer hockte, saß und lag auf einer Baumlichtung im Schatten, die Luft mit schneidendem Zwitscherlärm erfüllend. Da sich die gesamte Lehrerschaft zumeist im Stellungs- oder Lagerdienst befand, war Iskuhi oft stundenlang dieser zügellosen Bande allein ausgeliefert. Unter diesen vier- bis zwölfjährigen Wilden Ordnung zu halten oder Ruhe zu stiften, war ein Ding der Unmöglichkeit. Iskuhi hatte nicht die Kraft, den Kampf aufzunehmen. Da sie ihr eigenes Wort bald nicht mehr hören konnte, wartete sie resigniert, bis einer der erprobten Männer kam, Oskanian zum Beispiel, und die kleinen Teufel in bleichen Schrecken versetzte. Als eherner Militarist, der er nun war, schritt der Lehrer, das Gewehr in der Hand, durch den Kinderhaufen, als sei er bereit und habe nach Kriegsausbruch das Recht, jeden unbotmäßigen Schüler über den Haufen zu knallen. Die Weidengerte, mit der er zu allem übrigen noch ausgerüstet war, sauste auf Schuldige und Unschuldige nieder. Eine unglückselige Gruppe mußte auf spitzen Steinen knien, eine andere irgendwelche Gegenstände minutenlang hoch über den Kopf halten. Mit großartiger Verächtlichkeit hinterließ Oskanian nachher der stellvertretenden Lehrerin die Frucht seiner wehrhaften Pädagogik, eine geduckte Totenstille.

      Juliette sah schon am ersten Tag, daß diese Anstrengung Iskuhi durchaus nicht wohl bekam. Die gute Farbe verlor sich von ihren Wangen, das Gesicht wurde klein und die Augen wurden wieder so groß wie damals, als sie aus der Hölle der Verschickung heimgekehrt war. Mit Leidenschaft versuchte es Juliette neuerdings, das Mädchen von ihrem Pflichteifer abzubringen. Iskuhi sah sie verständnislos an. Wie dürfte sie sich jetzt, in dieser Stunde ihres Volkes, einer lächerlich geringfügigen Pflichterfüllung entziehen? Im Gegenteil! Sie wolle sich nun auch für den Nachmittag eine Arbeit suchen. Juliette wandte Iskuhi feindselig den Rücken. Ein flüchtiger Einfall flüsterte ihr zu, es sei nicht die Anstrengung des Unterrichtens, die an Iskuhi nage, sondern ein verborgenes Seelenleid. Schnell jedoch verjagte sie diesen Gedanken. Was hatte sie sich denn um die Schmerzen der anderen zu kümmern, sie, die einsamer und unglücklicher war als alle?

      Juliette lag nun oft am hellichten Tage stundenlang auf ihrem Bett. Die Enge des Zeltes umpreßte sie. Durch den Spalt des Türvorhangs drangen zwei scharfe Sonnenstrahlen, die sie quälten. Sie besaß nicht die Kraft, aufzustehen und den Spalt zu verhängen. Ich werde krank werden, hoffte sie, ach, wäre ich nur schon krank! Ihr Herz raste und drohte, vor unerfüllbaren Wünschen zu bersten. Sie sehnte sich nach Gabriel, doch nicht nach dem Gabriel, wie er jetzt war, sondern nach dem Pariser Gabriel, nach dem feinfühligen Mann, der mit zärtlichem Takt sie stets hatte vergessen lassen, was nicht zu überbrücken war. Sie sehnte sich nach dem Gabriel in der Avenue Kleber, in der hellen Wohnung, wenn er sich wohlgelaunt mit ihr an den Frühstückstisch setzte. Sie sehnte sich nach dem eleganten Herrn im Abendanzug, der mit ihr die Theater besucht und die schimmernden Restaurants betreten hatte, immer voll feiner Bewunderung für sie, immer Juliette vorrückend, als sei sie etwas weit Höheres und Kostbareres als er, der Armenier. Ihre ferne Welt umdröhnte sie dumpf mit Autohupen, mit dem unterirdischen Gerassel der Metro, mit melodischem Geplapper, mit den Geräuschen, mit den Düften der vertrauten Läden und Warenhäuser. Sie bohrte ihr Gesicht ins Kopfkissen, als sei es das Einzig-Eigene, die Handbreit Heimat, die ihr verblieben war. Sie suchte sich selbst in dem zarten