Iskuhi raffte sich auf, ohne weinen zu können. Anfangs glaubte sie nur, ihr linker Arm sei durch die Anstrengung des Kampfes fühllos geworden. Wie eingeschlafen, dachte sie. Doch plötzlich schlug der wahnsinnige Schmerz auf wie eine Stichflamme. Sprachlos durch diesen Schmerz, konnte sie ihrem Bruder nichts erklären. Howsannah und Aram führten sie. Kein Laut kam aus ihrem Mund. Alles an ihr war ohnmächtig, nur die Füße nicht, die kleine schnelle Schritte machten. Wie sie damals Marasch erreichen konnte, blieb ihr ein Rätsel. Als die Stadt in Sicht kam, trat der verzweifelte Tomasian an den Offizier heran und wagte die Frage, wie lange die Verschickten in Marasch würden bleiben dürfen. Er bekam die offene Antwort, dies hänge nur vom Mutessarif ab, jedoch mit einigen Tagen Aufenthalt sei bestimmt zu rechnen, weil ja der größere Teil der vorhergehenden Transporte noch immer in der Stadt liege. Man müsse mit neuen Einteilungen rechnen. Aram hob flehend die Hände:
»Sie sehen den Zustand, in dem sich meine Schwester und auch meine Frau befinden. Ich richte an Sie die Bitte, daß wir uns heute abend in die amerikanische Mission begeben dürfen.«
Der junge Mann zögerte lange. Das Mitleid mit der armen Iskuhi aber überwog schließlich seine dienstlichen Bedenken. Im Sattel schrieb er einen Erlaubnisschein für Pastor Aram und die beiden Frauen:
»Ich habe nicht das Recht, Sie freizulassen. Wenn man Sie erwischt, wird man mich zur Verantwortung ziehn. Sie haben den Befehl, sich täglich bei mir im Transportlager zu melden.«
Die Missionsväter empfingen die drei Schützlinge und Schüler mit gramvoller Liebe. Sie hatten ihr Leben dem armenischen Christenvolk geweiht. Und nun fuhr dieser Blitzschlag herab, der nur ein schwacher Vorbote der großen Vernichtung sein konnte. Sofort wurde ein Arzt herbeigerufen, ein sehr jugendlicher und unerfahrener leider. Er zerrte an Iskuhis Arm hin und her. Durch die Höllenqualen dieser Untersuchung und die überstandenen Strapazen verlor sie jetzt wirklich für ein paar Minuten die Besinnung. Er finde keinen Knochenbruch, erklärte der Arzt, der Arm sei aber ganz merkwürdig ausgerenkt und verzerrt. Das Übel liege in der Schulter. Er legte einen großen, festen Verband an und verabreichte ein Betäubungsmittel gegen den Schmerz. Gut freilich wäre es, riet er, wenn sich der Arm mindestens drei Wochen lang in starrer Ruhelage befände. Iskuhi schlief in dieser Nacht keinen Augenblick. Howsannah war in dem Zimmer, das man den Frauen angewiesen hatte, sofort in Schlaf verfallen, der einer Bewußtlosigkeit glich. Aram Tomasian aber saß am Tisch der Missionsväter und beriet mit ihnen, was zu geschehen habe. Das Votum fiel einhellig aus. Der Rektor Reverend E. C. Woodley traf die Entscheidung:
»Was auch immer geschieht, du darfst nicht weiter mit den Deportierten marschieren. Howsannah und Iskuhi gehen ja zugrunde, noch ehe ihr in Aleppo seid. Und außerdem bist du ja gar nicht nach Zeitun zugehörig, sondern von uns dahin entsandt worden.«
Pastor Aram geriet in einen der schwersten Gewissenskämpfe seines Lebens:
»Wie kann ich meine Gemeinde verlassen, jetzt in der Zeit ihrer höchsten Not?«
Wieviel Angehörige der protestantischen Gemeinde sich in dem Transport befänden, wurde gefragt. Er mußte zugeben, daß bis auf einen geringen Bruchteil alles der altarmenischen oder unierten Kirche angehöre. Doch dies beruhigte ihn keineswegs:
»Unter solchen Verhältnissen darf ich nicht nach Nichtigkeiten fragen. Ich bin der einzige Seelsorger, den sie haben.«
E. C. Woodley beruhigte ihn:
»Wir werden einen andern mit ihnen schicken. Ihr aber reist in eure Heimat. Dort wartest du, bis wir dich zu einem neuen Amt berufen.«
»Und was wird aus den Kindern?« stöhnte Aram Tomasian.
»Den Kindern kannst du dadurch nicht helfen, daß du mit ihnen in den Tod gehst. Das Waisenhaus von Zeitun ist unsere Anstalt. Du hast deine volle Pflicht getan, indem du die Waisen nach Marasch begleitet hast. Alles andere laß unsere Sorge sein. Du hast damit nichts mehr zu schaffen.«
Die quälende Stimme in Aram war nicht zum Schweigen zu bringen:
»Bin ich nicht zu mehr verpflichtet als zu meiner Pflicht?«
Der alte E. C. Woodley zeigte Ungeduld, obgleich er sich Arams im Herzen freute:
»Du glaubst doch nicht, Aram Tomasian, daß wir die Sache mit unserem Waisenhaus so ruhig hinnehmen werden. Was mit den Kindern geschehen wird, darüber ist noch lange nicht das letzte Wort gefallen. Du aber stehst uns im Wege, mein Junge! Als Pastor von Zeitun bist du kompromittiert. Verstanden? Gut! Und mithin enthebe ich dich feierlich deines Amtes als Waisenhausdirektor.«
Aram fühlte, daß er nur noch ein paar Minuten stark bleiben müsse, und Woodley werde dann seinem Willensentschluß keinen Widerstand mehr leisten, sondern ihn segnen für seinen christlichen Opfermut. Trotz dieses deutlichen Gefühls aber sagte er nichts mehr und beugte sich den Argumenten seines Missionsvaters. Für Howsannah und Iskuhi glaubte er es zu tun. Und doch erfüllte ihn, sooft er aus seinem unruhig bilderreichen Schlaf auffuhr, das Bewußtsein einer schweren Niederlage, eines Frevels an seiner Auserwählung und die Scham der Charakterschwäche.
Am andern Morgen begab sich Reverend Woodley in Begleitung des amerikanischen Konsularagenten zum Mutessarif und erwirkte für das Ehepaar Tomasian sowie für Iskuhi einen Reiseschein bis Yoghonoluk. Dieser lautete freilich nur für vierzehn Tage, binnen welchen die Reisenden ihr Ziel erreicht haben mußten. Trotz Iskuhis schwerer Verletzung waren sie daher gezwungen, die Fahrt schon am drittnächsten Tag anzutreten. Sie hätten den kürzeren Weg über Bagtsche wählen können, welches die nächstgelegene Station der anatolischen Eisenbahn war. Man riet ihnen dringend ab. Die Taurusstrecke war mit Soldatenzügen für die vierte Armee Dschemal Paschas überlastet. Die Vorsicht aber gebot heute, jede überflüssige Begegnung mit dem Militär zu vermeiden, zumal in Gesellschaft armenischer Frauen. Da der Pastor die Freiheit der Wahl an die Missionsväter abgetreten hatte, so fügte er sich ihnen auch, was den Reiseplan betraf. Anstatt der kurzen Eisenbahnfahrt lag ein beschwerlich endloser Weg von vielen Tagen vor ihnen. Ins Gebirge nach Aïntab zuerst, und dann über die gewundene elende Paßstraße des Taurus nach Aleppo hinab. Die Missionsväter stellten dem Pastor einen großen zweispännigen Wagen zur Verfügung und außerdem ein Reservepferd, das auch als Reitpferd verwendet werden konnte. Zugleich telegrafierten sie nach Aïntab an ihre Vertreter, damit dort ein neues Gespann bereitgehalten werde.
Die Reisenden hatten die Vorstadt von Marasch noch nicht verlassen, als ein Keuchen und flehentliches Geschrei den Hufschlag übertönte. Das Waisenmädchen Sato und der Hausknecht Kework rannten jammernd hinter ihnen drein. Zum Glück war es früher Morgen und noch niemand auf der Straße, um diese Szene zu verraten. So unangenehm es auch werden konnte, dem Pastor blieb nichts anderes übrig, als die unerwünschten Zuzügler in seine Gesellschaft aufzunehmen. Beide waren abnorme Fälle. Die kleine ausgemergelte Sato hatte als