»Mama, Mama! Es ist etwas geschehen. Wir bekommen Hausgäste. Fräulein Iskuhi, die Schwester des Pastors aus Zeitun. Und noch ein kleines Mädchen mit blutigen Füßen.«
Juliette war von dieser überraschenden Mitteilung merkwürdig berührt. Gabriel hatte niemals Leute ins Haus gebracht, ohne sie zu fragen. In seinem Verhältnis zu ihr lag eine gewisse Unsicherheit, was Menschen anbetraf, zumal Menschen seiner eigenen Rasse. Als er aber bereits nach zehn Minuten mit Iskuhi, dem Ehepaar Altouni und Sato erschien, war Juliette die Güte selbst. So wie viele hübsche Frauen, konnte sie durch weibliche Anmut und insbesondere von einem jüngeren Wesen leicht bestochen werden. Der Anblick der armen Iskuhi rührte sie und weckte in ihr die Hilfsbereitschaft einer älteren Schwester. Während sie die nötigen Aufträge erteilte, sprach ihr Wohlgefallen: Wirklich apart! So feine Gesichter gibt es selten unter ihnen. In ihren zerfetzten Kleidern noch schaut sie vornehm aus. Und für eine Armenierin scheint sie ein recht gutes Französisch zu sprechen. Das Zimmer war schnell instand gesetzt. Juliette brachte eigenhändig dies und jenes für Iskuhi, sogar ein schönes spitzengesäumtes Nachtgewand aus ihrem Besitz. Nicht einmal mit der Preisgabe etlicher Toilettewässer und Parfüms zögerte sie, obwohl diese Schätze unersetzbar waren.
Altouni besah noch einmal, mit bitteren Ausfällen gegen die Mediziner der großen Stadt Marasch, Iskuhis Arm. »Hast du Schmerzen, Liebchen?« Nein, Schmerzen habe sie gar keine mehr, nur so ein Gefühl, ein dumpfes Gefühl – sie suchte nach einem Wort –, ein Gefühl der Gefühllosigkeit. Der alte Arzt war der Überzeugung, daß auch seine Wissenschaft dem Arm des Mädchens nicht viel helfen werde. Dennoch legte er, weil er es nicht anders verstand, einen großen Verband an, der die Schulter bis zum Hals verhüllte. Es zeigte sich dabei, wie fest und sicher noch seine braunverrunzelten Greisenfinger arbeiteten.
Nicht lange darauf lag Iskuhi im weichen Bett, sauber gepflegt und friedlich. Juliette, die ihr bei allem geholfen hatte, wollte sich verabschieden:
»Wenn Sie etwas brauchen, mein Kind, so schütteln Sie nur energisch diese große Glocke. Das Essen wird zum Bett gebracht werden. Doch ich sehe noch vorher nach Ihnen.«
Iskuhi wandte der Gönnerin die Augen ihres Volkes zu, in denen noch immer die schreckhafte Ferne lag und nicht die wohlige Heimkehr:
»O danke, Madame ... Ich werde nichts brauchen ... Danke, Madame ...«
Und dann geschah, was weder in der furchtbaren Woche von Zeitun geschehen war, noch in den Tagen des Transportes und der Reise. Aus ihren Augen strömten die Tränen. Es war ein krampfhafter Erguß, es war ein Weinen ohne Schluchzen, ein Weinen gleichsam ohne Berg und Tal, eine Auflösung der Starrheit, etwas Weites und Trostloses wie das Steppenland dort im Osten, woher sie kam. Während Iskuhi regungslos weinte, stieß sie immer wieder die gleichen Worte hervor:
»Verzeihen Sie, Madame ... Ich habe das nicht gewollt ...«
Juliette hätte sich am liebsten zu Iskuhi hingekniet, sie geküßt und einen Engel genannt. Irgend etwas aber machte jede gewöhnliche Zärtlichkeit unmöglich. Die Entrückung, die das Mädchen noch immer umhüllte, das Erlebte, in dem sie noch immer verpuppt war. Juliette konnte ihrem warmen Impuls nicht gehorchen. So begnügte sie sich damit, ihre Hand leicht über Iskuhis Haar zu führen und schweigend am Kopfende des Bettes zu warten, bis der stumm Weinenden die Augen zufielen und sie in der gütigen Leere versank.
Mairik Antaram hatte indessen Satos Fußwunden behandelt und verbunden. Dann wurde die Kleine in einer der Dienerkammern zu Bett gebracht. Kaum aber war sie in tiefen Schlaf verfallen, als sie markerschütternde Schreie auszustoßen begann. Während sie in all diesen Tagen niemals ein Zeichen der Angst von sich gegeben hatte, schienen in der Traum-Wiederholung des Lebens hundert Peitschen auf sie niederzusausen. Es half nichts, daß man sie immer wieder beutelte. Sie schlief unerweckbar, und nach einer Weile begann das Ächzen und gellende Kreischen wieder von neuem. Manchmal klang dieses lange Heulen, als klammere es sich an einen hilfreichen Namen an: Kütschük Hanum!
Während die grausigen Laute aus der entfernten Kammer drangen, traf Juliette ihren Sohn, der gerade die große Haustreppe heraufkam. Stephan glühte. Das Neue, das Unbekannte, das Drohende erfüllte ihn mit reizvollen Wallungen. Er hatte im November seinen dreizehnten Geburtstag gefeiert, kam demnach in das Alter, in dem Sensationen alle Knabenseelen begeistern. Auch große Gewitter und Wolkenbrüche beobachtete er vom Fenster mit dem sträflich funkelnden Wunsch, irgend etwas Außerordentliches möge geschehen. Jetzt horchte er, wohlig entsetzt:
»Hörst du, Mama, wie Sato schreit?«
Iskuhis Augen, mein Kind hat Iskuhis Augen, durchfuhr es Juliette, und die abgründige Verstrickung des Lebens wurde ihr einen Blitzschlag lang bewußt. Das erstemal packte sie eine große Angst um Stephan. Sie zog ihn in ihr Zimmer, preßte ihn an sich, während die fernen Schreie Satos noch immer das stille Treppenhaus durchhallten.
Am späteren Abend hatte Gabriel Bagradian den Priester Ter Haigasun, den Arzt Bedros Altouni und den Apotheker Krikor zu sich gebeten. Die Herren saßen allein in dem schwach beleuchteten Selamlik bei Tschibuk und Zigaretten. Gabriel wollte aus diesen drei hochgebildeten und sehr würdigen Notabeln herausbringen, wie sie die Dinge wirklich sahen, wie sie im Falle eines Ausweisungsbefehls zu handeln gedächten und welche Mittel der Siedlung am Musa Dagh zur Verfügung standen, um das tödliche Unheil abzuwenden. – Er brachte gar nichts heraus. Ter Haigasun schwieg beharrlich. Der Arzt erklärte, er sei schon Achtundsechzig, und die zwei, drei kurzen Jahre, die er noch zu leben habe, würden vorübergehen, so oder so. Käme aber das Ende auf irgendeine Weise früher, um so besser! Lächerlich, wer sich wegen ein paar lumpiger Monate Sorgen mache. Das ganze Leben sei nicht die Kosten einer einzigen Sorge wert. Die Hauptsache sei, den Menschen soviel und solange wie möglich Ängste zu ersparen. Darin sehe er seine Hauptpflicht, die er unter allen Umständen erfüllen wolle, alles andere gehe ihn nichts an. Apotheker Krikor rauchte in tiefer Ruhe sein Nargileh, das er mit Vorsicht vom Hause hierhergetragen hatte. Er wählte tiefsinnig unter den glühenden Kohlenstückchen das ihm sympathischste aus und drückte es langsam mit nackten Fingern auf den Tabakballen der Wasserpfeife. Vielleicht wollte er den andern sinnbildlich vorführen, daß er die Glut mit bloßen Händen greifen könne, ohne versengt zu werden. Sein schiefäugiger Mandarinenkopf mit dem Bocksbärtchen schien, von der feierlichen Aufmerksamkeit des Nargileh-Schmauchens tief erfüllt, alle Erregung zu mißbilligen, die des Geistes gelassenen Gleichmut verwirrte. Der Geist allein gibt der Wirklichkeit ein Recht, nicht umgekehrt. Warum etwas tun wollen? Alles Wirken ist in sich selbst schon verwirkt, das Denken aber denkt ewig. Krikor wußte nicht, was kommen werde. Er war jedoch willens, unter jeder Bedingung des Lebens, alles Zufällige, Gleichgültige, Unwesentliche, und sei es auch die härteste Veränderung, an sich abgleiten zu lassen. Zur Bekräftigung dieses wahrhaft philosophischen Ideals, dem er noch in und durch seine letzte Stunde zu dienen hoffte, wies er auf ein türkisches Sprichwort hin, das ebensogut in den Mund des alten Agha Rifaat Bereket gepaßt hätte:
»Kismetdén zyadé olmaß! Nichts geschieht, was nicht prädestiniert ist.« In diesen Worten tat sich die Gelegenheit auf, die quälende Tagesfrage zu verlassen und das Gespräch auf jene erhabenen Dinge hinzulenken, die, der zeitlich gehässigen Teilnahme längst entzogen, so kühl sind wie die Buchseiten, in denen sie ein göttliches Leben führen. Und die hohle Stimme des Apothekers verbreitete sich über die unterschiedlichen Prädestinationslehren, über das Verhältnis des Christentums zum Islam, über Gregor den Erleuchter, über das Konzil von Chalcedon und über den Vorrang der monophysitischen Lehre gegenüber der römisch-katholischen Anschauung. Schon die Worte allein berauschten. Der Priester sollte nur staunen, wie weit es ein Apotheker in der Theologie gebracht hatte. Er bekam auch die Namen, Daten und seltsamen Lehrmeinungen einiger Kirchenväter zu hören, von denen er in seiner Studienzeit nichts vernommen hatte, einzig darum, weil sie dem schöpferischen Ingenium Krikors ihr Dasein verdankten.
Zum Verzweifeln! Gabriel stampfte unhöflich mit dem Fuß auf. Jetzt haßte der Europäer in ihm all diese Schläfer und Schwätzer, die wehrlos im Tode versanken, wie sie im Schmutz umkamen. Er unterbrach Krikor mit einer verächtlichen Handbewegung: