Historische Romane: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Verdi, Das Lied von Bernadette, Eine blassblaue Frauenschrift und mehr. Franz Werfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075835550
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beging den Fehler, anstatt weiter auf der großen Straße zu bleiben, allzufrüh auf einen Karrenweg in südlicher Richtung abzuschwenken. Dieser Weg verlor sich nach einigen Meilen im Nichts. Und nun begann das große Suchen und Irren. Auf diesem letzten Dornenpfad bewährte sich Keworks unerschöpfliche Körperkraft. Er trug die Frauen abwechselnd auf seinem Rücken, weite Strecken lang. (Das Gepäck hatte man bald liegengelassen.) Der Pastor stapfte voran, nur auf eines bedacht, die Richtung innezuhalten, die das Gewölk der Küstenberge angab. Immer wieder fand sich ein Karrenweg, dem man ein Stück weit folgen konnte und der auf morschen Holzbrettern über die Wasserläufe setzte. Hie und da half auch ein Kangni, ein Ochsenkarren, über eine längere Strecke hinweg. Bösen Erlebnissen durch Menschen jedoch waren sie nicht ausgesetzt. Die wenigen Moslems, die ihnen begegneten, Bauern, erwiesen ihnen Freundliches, reichten ihnen Trinkwasser und Käse. Wäre ihnen aber Böses zugestoßen, sie hätten sich nicht gewehrt. Fühllos gegen die Schmerzen ihrer zerschlagenen Glieder, ihrer blutenden Füße, schwankten sie in einer narkotischen Wolke dahin, in der Höhle ihrer Erschöpfung. Selbst der starke Aram taumelte des Weges, nicht mehr ganz bei sich, verloren in einer schaukelnden Bilderwelt. Manchmal lachte er laut vor sich hin. Eine merkwürdige Kraft der Schmerzüberwindung bewies Sato. Auf ihren wunden, blauschwarz gelaufenen Füßen trabte sie hinter Iskuhi, als sei sie von ihren Streifzügen her solches gewöhnt.

      Als Gabriel Bagradian die Vertriebenen auf den Kirchenstufen erblickte, waren sie noch in jenem Zustand erschöpfter Entrückung. Doch da sie jung waren, da die Wucht des Gerettetseins sie plötzlich überfiel, da die alten Gesichter des Vaters, des Priesters, des Doktors vor ihnen schwebten, da zitternde Worte erklangen, da die Wärme der Heimat sie umgab, kamen sie schnell zu sich, und die übermenschliche Ermattung wich ohne Übergang einer erregten Lebhaftigkeit.

      Pastor Aram Tomasian beteuerte immer wieder: »Denkt nicht an die alten Massaker! Das ist viel schlimmer, viel trauriger, viel unerbittlicher als alle Massaker, und vor allem viel langsamer. Es bleibt bei Tag und Nacht ...«

      Er preßte die Hände gegen die Schläfen:

      »Ich kann damit nicht fertig werden ... Immer habe ich die Kinder vor den Augen ... Wenn sie Woodley nur retten könnte!«

      Doktor Altouni bemühte sich schweigsam um Iskuhi. Die Männer aber redeten auf Aram ein. Nur allzuverständliche Fragen kreuzten einander:

      »Wird es bei Zeitun bleiben?« – »Ist nicht die Gemeinde von Aïntab zur Stunde auch schon unterwegs?« – »Was hört man in Aleppo?« – »Gibt es keine Nachrichten aus den anderen Vilajets?« – »Und wir?«

      Der Arzt, der den Verband heruntergewickelt hatte und Iskuhis braunrot verfärbten Arm nun mit warmem Wasser wusch, lachte schartig auf:

      »Wohin will man uns noch deportieren? Am Musa Dagh ist man schon deportiert.«

      Vom Platz her schlug der Lärm der Menge in den Raum. Ter Haigasun schnitt das Hin und Her ab. Er wandte sich mit seinen scheuen und zugleich so willensstarken Augen an Bagradian:

      »Haben Sie die Güte, Gabriel Bagradian, und sprechen Sie zu den Leuten dort draußen ein paar beruhigende Worte, damit sie endlich nach Hause gehn.«

      Warum suchte sich Ter Haigasun für seine Bitte gerade Gabriel aus, den Pariser, der zu diesen Dörflern keinen Zugang hatte? Es wäre die Sache des Muchtars Kebussjan gewesen, zu seinen Leuten zu reden. Oder verfolgte der Priester mit dieser Bitte eine verschwiegene Absicht? Gabriel Bagradian erschrak und wurde verlegen. Dennoch gehorchte er Ter Haigasun, nahm aber Stephan an der Hand mit. Das Armenische war wohl seine Muttersprache, doch im ersten Augenblick, da er jetzt zu der Ansammlung sprechen sollte – sie war mittlerweile zu einem Halbtausend angewachsen –, kam es ihm wie ein Übergriff, wie eine unerlaubte Einmischung vor. Fast wäre ihm das Türkische, die Militärsprache, näher gelegen. Aber es waren nur die ersten Laute, die ihn beklommen machten, dann strömten die Silben immer klarer, die alte Sprache begann in ihm zu keimen und zu sprießen. Er bat die Einwohner von Yoghonoluk und wer sich von den andern Ortschaften sonstwie eingefunden hatte, ruhig auseinander und nach Hause zu gehn. Es seien bloß in Zeitun und nirgendwo anders Unregelmäßigkeiten vorgefallen, deren wahren Grund man erst werde untersuchen müssen. Jeder Armenier wisse, daß Zeitun seit jeher immer einen Ausnahmefall bilde. Für die Leute vom Musa Dagh, die einem ganz andern Gebiet angehören und mit Politik nie etwas zu tun hatten, bestehe nicht die geringste Gefahr. Doch sei gerade in solchen Zeiten Ordnung und Ruhe heiliger denn je. Er, Bagradian, werde dafür sorgen, daß alle wichtigen Ereignisse von nun an in den Dörfern regelmäßig bekanntgemacht würden. Nötigenfalls sollten alle Gemeinden zu einer Volksversammlung zusammentreten, um die Zukunft zu beraten.

      Gabriel spürte zu seinem eigenen Erstaunen, daß er sicher sprach, die angemessenen Worte fand, und daß von ihnen eine befriedende Kraft auf die Hörer überging. Jemand rief sogar: »Es lebe die Familie Bagradian!« Nur eine Frauenstimme jammerte: »Asdwaz im, mein Gott, was wird mit uns geschehn?«

      Wenn die Leute den Platz auch nicht verließen, so zerschlugen sie sich doch in kleinere Gruppen und belagerten die Kirche nicht mehr. Von den Saptiehs lungerte nur noch Ali Nassif umher, seine beiden Kameraden hatten sich schön davongemacht. Gabriel trat auf den Pockennarbigen zu, der sich seit einiger Zeit nicht auszukennen schien, ob er in dem Effendi einen großen Herrn zu sehen habe oder ein Chansir kiafir, ein ungläubiges Schwein, das kraft der neuen Wendung der Dinge von Amts wegen einer Antwort überhaupt nicht würdig sei. Gerade wegen dieser seiner Unsicherheit ließ Bagradian den Saptieh sehr hoheitsvoll an:

      »Du weißt, wer ich bin. Ich bin dein Höherer und Vorgesetzter, ich bin Offizier der Armee.«

      Ali Nassif entschloß sich zum Strammstehn. Gabriel griff bedeutungsvoll in die Tasche:

      »Ein Offizier gibt kein Bakschisch. Doch du erhältst von mir diese zwei Medjidjeh als Anzahlung für einen außerdienstlichen Auftrag, den ich dir hiermit erteile.«

      Die aufgereckte Haltung Ali Nassifs wurde immer vorbehaltloser. Bagradian winkte ihm knapp, er möge in gewöhnliche Stellung übergehn:

      »Ich sehe in letzter Zeit neue Gesichter unter euch Saptiehs. Hat dein Posten Zuwachs bekommen?«

      »Wir waren zuwenig, Effendi, für den schweren Dienst und die weiten Wege. Deshalb hat man den Posten verstärkt.«

      »Ist das der wirkliche Grund? Nun, darauf brauchst du mir keine Antwort zu geben. Aber wie bekommst du deine Befehle, die Löhnung und alles andere?«

      »Einer von den Jungen reitet jede Woche nach Antakje, und der nimmt die Befehle von dort mit.«

      »Hör also deinen außerdienstlichen Auftrag, Ali Nassif! Solltest du irgendeinen Befehl erhalten oder auch nur etwas von deinem Kommando erfahren, was für diesen Bezirk hier wichtig ist, du verstehst mich, so kommst du sogleich zu mir in mein Haus! Dort erhältst du dann den dreifachen Betrag der Anzahlung.«

      Hoheitsvoll, wie er ihn angesprochen, ließ Bagradian den Saptieh stehn und kehrte in die Sakristei zurück.

      Altouni hatte die Untersuchung beendet. Er höhnte:

      »Da haben sie in Marasch ein großes Hospital, Instrumente, Operationssaal, ärztliche Bibliotheken, und dieser Esel von einem Kollegen hat den Arm nicht einmal eingerichtet. Was kann man dann von mir verlangen, der ich außer einer rostigen Zange zum Zähnereißen keinen Behelf besitze? Wir werden den Arm zwischen zwei Holzschienen legen müssen. Schrecklich sieht er aus. Ein angenehmes Zimmer, lange Bettruhe und Pflege wird nötig sein. Selbstverständlich auch für deine Frau, Aram!«

      Der alte Meister Tomasian war verzweifelt:

      »Und ich habe so wenig Platz, seitdem ich mein Haus verkauft habe. Wie werden wir uns nur einrichten ...?«

      Gabriel Bagradian erbot sich sofort, Fräulein Tomasian ein Zimmer in seinem Haus einzuräumen, eins mit dem schönen Blick aufs Gebirge. Für Pflege werde genau nach Vorschrift Doktor Altounis gesorgt werden. Der Arzt war damit herzlich zufrieden:

      »Koh jem, ausgezeichnet, mein Freund! Und dieses Unglücksgeschöpf da, Sato, wie, die nimmst du mir auch noch zu dir, damit ich meine hochverehrten Patienten alle beisammen habe. Meine alten