Das Glück oder vielmehr das Unglück von Nazareth Tschausch wollte es, daß er in dem Kaimakam einen ganz unzulänglichen Gegenspieler besaß. Dieser war kein blutiger Tyrann, sondern ein Durchschnittsbeamter alten Stils, der einerseits seine Ruhe haben wollte und andrerseits sich nach »oben« decken mußte. Dieses Oben bestand in erster Linie aus dem Mutessarif des Sandschaks Marasch, dem die Kasah von Zeitun unterstand. Der Mutessarif selbst war ein äußerst scharfer Mann, unerschrockenes Mitglied von Ittihad, gewillt, die Entschlüsse Envers und Talaats über die »verfluchte Rasse« erbarmungslos zu vollstrecken, und sei es gegen die Befehle seines Vorgesetzten, des Wali von Aleppo, Djelal Bey. Der Mutessarif überschüttete den Kaimakam mit Anfragen, Mahnungen und peitschenden Vorwürfen. Dadurch sah sich der dicke Landrat von Zeitun gezwungen – weit lieber hätte er in Frieden mit den Armeniern gelebt –, irgendein Anklagefaktum zustande zu bringen, wenn auch nur gegen eine einzige hervorragende Persönlichkeit. Das Wesen des farblosen Beamten besteht ja gerade darin, daß er ohne eigenen Charakter den jeweiligen Vorgesetzten spiegelt. Der Kaimakam machte sich also an den Muchtar Nazareth Tschausch heran, lud ihn täglich zu sich, überschüttete ihn mit Freundlichkeit und bot ihm sogar gute Geschäfte mit dem Staat an. Tschausch erschien nicht nur pünktlich; wenn es gewünscht wurde, sondern er machte sich auch mit der arglosesten Miene die geschäftlichen Anregungen zunutze. Bei diesen Zusammenkünften kam man natürlich immer herzlicher ins Gespräch. Der Landrat setzte dem Bürgermeister seine leidenschaftliche Freundschaft für die Armenier auseinander. Tschausch aber bat inständig, solches Wohlwollen nicht so zu übertreiben; alle Völker hätten ihre Fehler, die Armenier nicht zuletzt. Sie müßten sich erst je nach Verdienst ihren Rang im Vaterland erwerben. Welche Zeitungen denn der Muchtar lese, um sich über die Lage wahrheitsgemäß belehren zu lassen? Nur den »Tanin«, das offizielle Reichsblatt, gab Tschausch zur Antwort. Was aber die Wahrheit anbetreffe, so lebe man ja in einem weltumstürzenden Kriege und die Wahrheit sei überall eine der verbotenen Waffen. Der Kaimakam, in seiner hilflosen Einfalt deutlicher werdend, begann Ittihad zu lästern, die Macht hinter der Macht. (Wahrscheinlich kam es ihm sogar vom Herzen.) Nazareth Tschausch erschrak sichtlich:
»Es sind große Herren, und große Herren wollen das Beste.«
Der Gefoppte geriet in Wut:
»Und Enver Pascha? Was denkst du von Enver, Muchtar?«
»Enver Pascha ist der größte Krieger unserer Zeit. Doch was verstehe ich davon, Effendi?«
Nun begann der Kaimakam wehleidig zu blinzeln und zu betteln:
»Sei offen mit mir, Muchtar! Weißt du, daß die Russen vorrücken?«
»Was sagst du da, Effendi? Ich glaube es nicht. Es steht nicht in der Zeitung.«
»Nun sage ich es dir. Sei offen, Muchtar! Wäre das nicht eine Lösung ...«
Nazareth Tschausch unterbrach ihn fassungslos:
»Ich warne dich, Effendi! Ein hochgestellter Mann wie du! Sprich nicht weiter, um Gottes willen. Es wäre Hochverrat. Doch fürchte dich nicht! Dein Wort bleibt in mir begraben.«
Wo dergleichen feine List versagte, war die offene Roheit nicht ferne.
Selbstverständlich gab es auch in Zeitun und seiner rauhen Umgebung »Elemente«. Diese erhielten, je länger der Krieg dauerte, um so häufiger Zuzug von außen. Aus den Kasernen von Marasch waren nicht nur etliche Armenier, sondern mindestens ebenso viele Mohammedaner durchgebrannt. Der zerrissene Bergkegel Ala Kaja bot einen bewährten und angenehmen Aufenthalt für Deserteure jeder Sorte, wie es sich in den Kasernen herumgesprochen hatte. Zu diesen Deserteuren stießen noch ein paar Hitzköpfe, ein Dutzend freibeuternder Naturen, die entweder etwas auf dem Kerbholz hatten oder die unbekömmliche Luft der Stadt nicht länger atmen wollten. Mitglieder dieser scheuen Gesellschaft tauchten hie und da nachts in den Gassen auf, um Proviant zu holen oder ihre Familien zu besuchen. Bis auf ein paar harmlos landesübliche Räubereien taten sie niemand etwas zuleide und waren sogar bestrebt, kein Ärgernis zu erregen.
Eines Tages aber wurde in den Bergen ein türkischer Eseltreiber verprügelt, und es steht gar nicht fest, ob von jenen Deserteuren. Einige Ungläubige behaupteten, der verlauste Kerl habe sich für ein Bakschisch der kaiserlich ottomanischen Regierung selbst so übel zugerichtet. Doch Scherz beiseite, der Mann lag wirklich zuschanden geschlagen im Straßengraben. Hiermit aber war der ersehnte Vorfall gegeben. Die Müdirs und Unterbeamten legten undurchdringliche Gesichter an, die Saptiehs patrouillierten nur mehr in Doppelposten durch die Gassen, und Nazareth Tschausch wurde diesmal zum Kaimakam vor- und nicht eingeladen.
Revolutionäre Umtriebe nähmen in bedenklichster Weise überhand, klagte der Kaimakam. Seine Vorgesetzten, insbesondere der Mutessarif von Marasch, forderten durchgreifende Vorkehrungen. Wenn er noch länger zögere, sei es um ihn geschehn. Er rechne daher fest auf die Hilfe seines Freundes Nazareth Tschausch, der ja im Bezirk das größte Ansehen genieße. Es werde dem Muchtar ein leichtes sein, im Interesse der armenischen Millet einige Aufrührer und Verbrecher ans Messer zu liefern, die im Umkreis oder gar in der Stadt selbst verborgen seien. Hier ging der kluge Mann dem Dummkopf in die Falle. Er hätte sagen müssen:
»Effendi! Ich stehe Seiner Exzellenz, dem Mutessarif, und dir zu Diensten. Befiehl, was zu geschehen hat.«
Anstatt dessen aber gab er sich zum erstenmal eine Blöße:
»Ich weiß nichts von Verbrechern und Revolutionären, Effendi.«
»So kannst du uns den Platz nicht nennen, wo sich das Gesindel versteckt, um bei hellichtem Tage redliche Staatsbürger zu überfallen?«
»Da ich das Gesindel nicht kenne, so kenne ich auch seinen Aufenthaltsort nicht.«
»Das tut mir leid. Das Schlimmste aber ist, daß du in der letzten Freitagnacht zwei von diesen Staatsfeinden in deinem eigenen Hause empfangen hast.«
Nazareth Tschausch hob seine gichtischen Finger zum Schwur und leugnete. Es klang aber nicht sehr überzeugend. Da hatte der Kaimakam einen Einfall, und es war kein Einfall der Tücke, sondern er entsprang aufrichtig seinem bequemen Wesen, das alle Härte verabscheute:
»Weißt du was, Muchtar? Ich habe eine Bitte an dich. Mir werden all diese Ungelegenheiten mit euch nachgerade zuwider. Ich bin ein friedlicher Mann und kein Polizeihund. Nimm mir die Sache ab. Ich bitte dich, nach Marasch zu fahren! Sprich du mit dem Mutessarif! Du bist der Stadtvater, er ist der Verantwortliche. Meine Meldung über das Vorgefallene hat er in der Hand. Ihr beide werdet das Richtige schon ausfindig machen.«
»Ist das ein Befehl, den du mir gibst, Effendi?«
»Ich sage dir doch, eine persönliche Bitte. Du kannst sie ablehnen, aber es würde mich schmerzen.«
Der Kaimakam rechnete mit einem zwiefachen Gewinn. Er wurde Tschausch los, ehe er ihn einsperren mußte, und überstellte zugleich dem Mutessarif die wichtigste Persönlichkeit der Stadt zur Amtshandlung. Nazareth Tschausch dachte lange nach. Die Querfalten über seiner Nasenwurzel reichten hoch in die Stirn. Er richtete sich an seinem Stock auf. Aus dem überlegenen war plötzlich ein schwerfälliger Mann geworden.
»Wenn ich nach Marasch gehe, begebe ich mich in Gefahr ...«
Der Kaimakam erwies ihm beruhigende Güte:
»Gefahr? Warum? Die Straße ist sicher. Ich will dir meinen eigenen Wagen leihen, und zwei Saptiehs sollen ihn zu deinem Schutz begleiten. Auch bekommst du einen Empfehlungsbrief an den Mutessarif mit, den du vorher lesen kannst. Und wenn du noch andre Wünsche hast, so werde ich sie erfüllen.«
Die gefurchten Züge des Bergarmeniers wurden ganz grau. Er stand alt und verfallen da wie der Stadtfelsen von Zeitun. Verzweifelt suchte er nach Gegengründen. Aber seine Lippen unter dem hängenden Schnurrbart regten sich nicht. Eine unbekannte