»Kütschük Hanum! Fräulein! Bitte Sato nicht allein lassen!« Dieses dünnknochige Nichts von Menschenkind bettelte mit todesgroßen und doch frechen Augen, in denen eine entschlossene Kraft lag, der man sich nicht entziehen konnte. Iskuhi und auch Howsannah hatten sich dieser Sato gegenüber niemals des Widerwillens, ja manchmal sogar eines Schauders erwehren können. Selbst wenn sie reingewaschen und gestriegelt war, flößte sie den Frauen einen körperlichen Ekel ein. Jetzt aber mußte, so peinlich der Zuwachs auch störte, die Kleine auf dem Rücksitz des Wagens verstaut werden. Der Knecht Kework nahm neben dem Kutscher Platz. Kework stammte aus Adana. Seitdem er dort bei einem der zahlreichen »Ereignisse« als halbwüchsiger Junge einen Kolbenhieb über den Kopf erhalten hatte, war er ein gutmütiger Kretin geblieben. Er konnte nur stotternd reden. Und wenn er, ähnlich wie Sato von der Vagabundiersucht, von seinem Tanzwahn befallen wurde, so ließ sich auch mit ihm nichts anfangen. Dieser feierliche Wahn, dessentwegen er der Tänzer genannt wurde, war eine stille und sehr harmlose Anfälligkeit, die sich nur selten einstellte, zumeist dann, wenn ihn etwas erregt hatte. Sonst aber versah Kework treulich seinen Dienst als Ofenheizer, Wasserträger, Holzhacker, Gärtner und leistete mit stummer Leidenschaft die Arbeit von zwei Männern. Wie viele wertvolle Kinder und Erwachsene wären zu retten gewesen, so ging es Aram durch den Kopf, und Gott schickt mir eine kleine Verbrecherin und einen Idioten. Dem Pastor war es, als läge in dieser Tatsache eine bedeutsame Erwiderung auf sein laues und opferflüchtiges Verhalten den ausgetriebenen Zeitunlis gegenüber. Sato hingegen wurde von einer ungestümen und ungetümen Lustigkeit erfaßt. Sie drängte sich mit ihren spitzen Knien an Iskuhi, sie lachte und gluckste in den Tag hinein, als sei die Ausstoßung das herrlichste Feiertagsgeschenk der Welt. Vielleicht war sie noch niemals in einem Wagen gefahren. Sie ließ ihre magere Hand mit den breiten, garstigen Nägeln wie über einen Bootsrand hinaushängen und im kühlen Kielwasser der Luft entzückt nachschleifen. All diese Beweise des Lebensglücks erweckten aber nur das Unbehagen und den Zorn der Reisenden. Iskuhi stieß ihre Knie zur Seite. Der Pastor, der neben dem Wagen ritt, drohte Sato, er werde sie, wenn sie nicht ruhig sitze, entweder erbarmungslos aus dem Wagen werfen oder ihr bestenfalls die Hände fesseln.
Die ermüdende Reise nach Aïntab – man mußte zweimal in elenden Dorf-Chanen übernachten – verlief ohne Zwischenfall. In Aïntab selbst rasteten sie drei Tage. Die Armeniergemeinde hatte auf das Telegramm E. C. Woodleys hin die neuen Pferde schon bereitgestellt. Seitdem am gestrigen Tag der erste Zeitun-Transport in der Stadt eingetroffen war und sie die Elenden mit ihren eigenen Augen sahen, warteten die Armenier von Aïntab fassungslos auf ihr eigenes Ende. Sie verließen kaum mehr ihre Häuser. Furchtbare Gerüchte gingen um. Es hieß, die Regierung werde mit Aïntab kürzeren und auch billigeren Prozeß machen: der armenische Stadtbezirk würde einfach niedergebrannt und die Einwohner zusammengeschossen werden. Dennoch überbot sich die Gemeinde an Liebesbeweisen gegen den Pastor und die Frauen. Es war, als hofften sie in diesen geretteten Opfern selbst mitgerettet zu werden. Aram Tomasian versuchte Sato in der Stadt unterzubringen. Sie klammerte sich aber mit solchem Entsetzen an Iskuhi, daß er sie schließlich wieder auf dem Rücksitz mitnahm, vielleicht zur Buße für seine eigene Sünde.
Noch bis Aleppo ging alles gut, obgleich man vier Tage lang über die Pässe des Taurus hinschlich, die größten Schwierigkeiten in den Stationen mit dem Pferdewechsel hatte und zweimal die Nacht in leeren Scheunen verbringen mußte. Die große Stadt aber mit ihrem Riesenbazar, den gepflasterten Straßen, den vielen Amts- und Militärpalästen, den schönen Gärten, den prächtigen Missionen, Hotels und Herbergen wirkte wie eine Erlösung auf die seelisch und körperlich Heruntergekommenen. Trotz der scharfen Untersuchung durch die Saptiehs an der Stadtgrenze – Sato und Kework waren nach einigen herzklopfenden Minuten als Dienerschaft durchgeschlüpft – senkte das Straßenbild der gleichgültig ziehenden Menschenströme den Schein der Freiheit in die Seele der Unfreien. Der Empfang durch die Missionare und die Gemeindevertretung unterschied sich jedoch gewaltig von der Aufnahme in Marasch und Aïntab. Die Missionare waren hier mit soviel Geschäften, Verpflichtungen, Lasten überhäuft, es ging bei ihnen so bürokratisch zu, daß Aram ihre Hilfe nicht in Anspruch nehmen wollte. Nur zwei bescheidene Zimmer erbat er für sich und seine Familie. Die armenische Gemeinde wiederum war steinreich und daher auch hartherziger und ängstlicher als die kleinen Leute von Aïntab. Die Sorge um ihr Schicksal war ja verschärft dadurch, daß sie mehr zu verlieren hatte als jene. Und noch eines: Als der Pastor von Zeitun sprach, merkte er sofort, daß der Name des verfemten Ortes bei seinen großstädtischen Brüdern beklommene Gefühle erweckte. Sie wollten offenbar vor der Obrigkeit mit jenen nichts zu tun haben, die als hartnäckige Aufrührer angeprangert waren. Die Anwesenheit des Zeituner Pastors in ihrer Kanzlei konnte ihnen Verlegenheiten bringen. Jetzt galt es, um der eigenen Rettung willen, sich in fanatischer Staatstreue selbst zu überbieten und keinen bedenklichen Umgang zu pflegen. Man trug dem Pastor eine Geldunterstützung an. Sonst könne man nichts für ihn tun. Er verzichtete dankend.
Die Zeit drängte, und Tomasian war gezwungen, selbst einen Wagen, eine Yayli, zu mieten, wie sie auf den Standplätzen in großer Zahl warteten. Zuerst lehnte der Fuhrwerksbesitzer die Zumutung ab, sich in die Unbequemlichkeit einer solchen Reise zu stürzen. Bis an die Küste hinter Antiochia. Er griff sich, über solche Narrheit entsetzt, an den Fez. Dann wurde nach vielen Beteuerungen mit »Inschallah« und »Allah bilir« der Fahrpreis dennoch ausgehandelt, worauf der Mann zwei Drittel des Geldes vorausverlangte und auch bekam, denn alle anderen Kutscher hätten sich ebenso benommen, der Pastor wußte es. Aram wählte die Straße nach Alexandrette, trotz des großen Bogens und Umwegs, den sie beschrieb. Er hoffte, in anderthalb starken Reisetagen bei der Abzweigungsstelle nach Antiochia und von dort in vierundzwanzig Stunden zu Hause zu sein. Knapp vor Sonnenuntergang des ersten Tages aber stieg der Kutscher vom Bock, besichtigte grämlich Pferdehufe, Räder, Achse und erklärte, er habe genug, die Pferde seien abgehetzt, der Wagen zu schwer belastet, er sei nicht verpflichtet, alle möglichen Armenier durch die Welt zu führen, und er werde jetzt sogleich umkehren, um noch zu einer guten Stunde in Turont einzutreffen, wo er Verwandte habe. Keine Bitte half, nicht einmal die Erhöhung des Fahrpreises um eine beträchtliche Summe. Er habe seinen Teil erhalten, er benötige nicht mehr, bekundete der Türke voll Großartigkeit. Er wolle aber ein übriges tun und die Fahrgäste das Straßenstück bis nach Turont völlig unentgeltlich zurückbringen, woselbst sie in dem prächtigen Chan seiner Verwandten in echten Betten trefflich nächtigen könnten. Pastor Tomasian hob den Stock und hätte den Unverschämten gezüchtigt, wäre ihm Howsannah nicht in den Arm gefallen. Darauf warf der Mann die Gepäckstücke aus der Yayli, zog die Zügel an und ließ die fünf Menschen mitten in einer leeren und öden Welt stehen. Sie wanderten dann noch eine Stunde lang auf der Straße weiter, in der Hoffnung, ein Dorf oder eine Fahrgelegenheit werde sich zeigen. Doch weit und breit kam nichts, kein Karren, keine Scheune, keine Hütte, kein Dorf. Wiederum mußte eine Nacht unter freiem Himmel zu Ende gelebt werden, und sie zog langsamer vorbei als die erste, denn niemand hatte mit ihr gerechnet. Die Biegung der Straße schimmerte im schwachen Mondlicht wie eine gefährliche Säbelklinge. Sie legten sich deshalb fernab von ihr auf eine nackte Erdstelle. Doch auch die Allmutter Erde erwies sich den Armeniern gehässig. Von unten drang Feuchtigkeit durch die Decken und eine summende Glocke von Sumpfluft stülpte sich über sie, in welcher die Gelsen ihr giftiges Lied sangen. Kework und der Pastor wachten, letzterer ohne den Jagdstutzen aus der Hand zu legen, den er von den Vätern in Marasch zur Waffe erhalten hatte.
Die letzte Steigerung des Elends aber blieb den folgenden fünfzig Stunden vorbehalten,