Warum Gott?. Timothy Keller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Timothy Keller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Религиозные тексты
Год издания: 0
isbn: 9783765570377
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Glauben basiere, sei schlicht ein „Gesprächskiller“, den man dem Nichtgläubigen nicht zumuten könne.30

      Denen, die diese Strategie als diskriminierend empfinden, erwidern Rorty und andere, dass sie schlicht pragmatisch gemeint sei.31 Sie seien nicht gegen die Religion an sich und versuchten auch nicht, religiöse Überzeugungen zu kontrollieren, solange sich die Religion auf die Privatsphäre beschränke. Doch im Bereich der Öffentlichkeit führe es zu unnötigen Kontroversen und sei zeitraubend, ständig über Religion streiten zu müssen. Religiös begründete Positionen betrachten Rorty und seine Mitstreiter als sektiererisch und zu Kontroversen führend, während sie säkulare ethische Argumentationen als universal und allgemein nachvollziehbar betrachten. Deswegen sollte der öffentliche Diskurs stets säkular und nicht religiös sein. Die Menschen sollten ohne jeden Bezug auf göttliche Offenbarung oder Bekenntnistraditionen gemeinsam an den großen Problemen unserer Zeit wie Aids, Armut, Bildung etc. arbeiten. Wir sollten unsere religiösen Überzeugungen für uns behalten und gemeinsam nach Wegen zum Wohl der Menschen suchen.

      Stephen L. Carter von der Universität Yale hat darauf erwidert, dass es, sobald wir moralisch argumentieren, völlig unmöglich ist, die Religion außen vor zu lassen:

       Der Versuch, eine Öffentlichkeit zu schaffen, in der das religiöse Gespräch nicht mehr vorkommt, wird, so durchdacht er auch sein mag, am Ende den Vertretern der organisierten Religion immer sagen, dass sie allein, und sonst keiner, erst dann am öffentlichen Dialog teilnehmen dürfen, wenn sie den Teil ihrer Identität, der für sie der wichtigste ist, abgelegt haben. 32

      Wie kommt Carter zu solch einer Behauptung? Fragen wir zunächst, was Religion ist. Einige sagen, sie ist irgendeine Art von Glauben an Gott. Aber das würde nicht den Zen-Buddhismus abdecken, für den es eigentlich gar keinen Gott gibt. Andere sagen, Religion sei der Glaube an das Übernatürliche. Aber das trifft nicht den Hinduismus, der nicht an eine übernatürliche Welt jenseits der materiellen glaubt, sondern an eine spirituelle Realität, die innerhalb der Erfahrungswirklichkeit liegt. Aber was ist Religion dann? Sie ist ein System von Glaubensaussagen, die erklären, was der Sinn des Lebens ist, wer wir sind und was das Wichtigste ist, was die Menschen in ihrer Lebenszeit tun sollten. Es gibt z.B. Menschen, die glauben, dass diese materielle Welt die alleinige Realität ist, dass es reiner Zufall ist, dass es uns gibt, dass wir nach unserem Tod nicht mehr existieren und dass es deshalb darauf ankommt, in dem bisschen Leben, das wir haben, glücklich zu sein und uns nicht von anderen religiöse Überzeugungen aufdrücken zu lassen. Auch wenn es sich dabei um keine explizite, „organisierte Religion“ im üblichen Sinne handelt, so finden wir doch eine Art „Metaerzählung“, also eine Geschichte über den Sinn des Lebens, nebst einer Anweisung, wie man aufgrund dieses Sinns sein Leben am besten führt.

      Religion ist ein System von Glaubensaussagen, die erklären, was der Sinn des Lebens ist, wer wir sind und was das Wichtigste ist, was die Menschen in ihrer Lebenszeit tun sollten.

      Manche Experten nennen dies eine „Weltanschauung“, andere eine „narrative Identität“ (die sich eben aus dieser selbst erzählten Geschichte über den Sinn des Lebens speist). In jedem Fall ist es ein System von Glaubensaussagen über das Wesen der Dinge. Eine implizite Religion. In diesem allgemeinen Sinn prägt der Glaube an eine bestimmte Sicht der Welt und der menschlichen Natur das Leben jedes Menschen. Jeder von uns lebt und handelt aus einer Weltanschauung heraus, ob diese nun ausformuliert und reflektiert ist oder nicht. Jeder, der sagt: „Das musst du tun“ oder: „Das darfst du nicht tun“, tut dies aufgrund einer impliziten oder expliziten moralischen und religiösen Position. Pragmatiker sagen, dass wir unsere Weltanschauung außen vor lassen und den Konsens über das suchen sollen, „was funktioniert“ – aber unsere Meinung darüber, was funktioniert, ist von unserer Meinung darüber bestimmt, wozu die Menschen da sind. Jedes Bild eines Lebens, das „gelingt“, entspringt notwendigerweise unserem tiefsten Glauben über den Sinn des menschlichen Lebens.33 Selbst der säkularste Pragmatiker bringt, wenn er sich an den Diskussionstisch setzt, tiefe Überzeugungen und Deutungsbilder über das Menschsein mit.

      Rorty hält religiöse Überzeugungen für „Gesprächskiller“. Aber fast alle unsere Grundüberzeugungen sind Glaubensüberzeugungen, die wir denen, die sie nicht teilen, schier nicht plausibel machen können. Solche säkularen Ideen wie „Selbstverwirklichung“ und „Autonomie“ sind absolut unbeweisbar und genauso „Gesprächskiller“ wie das Zitieren von Bibelversen.34

      Viele Aussagen, die für den, der sie macht, in den Bereich des gesunden Menschenverstandes gehören, sind in Wirklichkeit zutiefst religiöser Natur. Da behauptet Frau A, dass man alle sozialen Netze für die Armen entfernen solle, damit die Stärkeren überleben – „survival of the fittest“! Frau B wendet ein, dass „auch die Armen ein Recht auf einen anständigen Lebensstandard haben; sie sind schließlich auch Menschen wie wir!“ Worauf Frau A kontern könnte, dass viele Bioethiker heute den Begriff des „Menschen“ für künstlich und letztlich undefinierbar halten. Es ist überhaupt nicht möglich, alle Lebewesen als Ziele und nicht als bloße Mittel zu betrachten; es müssen immer ein paar sterben, damit die anderen leben können, so ist das nun einmal in der Natur. Wenn Frau B sich darauf auf das pragmatische Argument verlegt, dass wir den Armen helfen müssen, weil dann die Gesellschaft besser funktioniert, kann Frau A mit einem Dutzend gleich pragmatischer Argumente zurückschießen, warum die Welt noch besser funktioniert, wenn wir ein paar von den Armen sterben lassen. Spätestens jetzt wird Frau B wütend: „Die Armen einfach sterben lassen, das ist doch unmoralisch, das geht doch nicht!“ Frau A erwidert: „Wer sagt denn, dass die Moral für alle Menschen dieselbe sein muss?“ Worauf Frau B explodiert: „Also, in so einer Gesellschaft, von der Sie da träumen, möchte ich nicht wohnen!“

      In dieser Diskussion hat Frau B versucht, John Rawls zu folgen und allgemein zugängliche, „neutrale und objektive“ Argumente zu finden, die jeden vernünftigen Menschen davon überzeugen, dass man die Armen nicht verhungern lassen darf. Es ist ihr nicht gelungen – weil es solche Argumente nicht gibt! Am Schluss der Diskussion kann Frau B nur noch behaupten, dass es eben moralisch und „richtig“ sei, den Armen zu helfen. Zu ihrem Weltbild gehört der Glaube, dass Menschen wertvoller sind als Steine oder Bäume – ein Glaube, der sich wissenschaftlich nicht beweisen lässt. Ihre sozialpolitischen Forderungen basieren letztlich auf religiösen Überzeugungen.35

      Der Rechtstheoretiker Michael J. Perry hält den Versuch, in öffentlichen politischen Diskussionen „eine wasserdichte Wand zwischen religiös fundiertem moralischem Diskurs … und [säkularem] Diskurs“ bauen zu wollen, für „weltfremd“.36 Rorty und andere halten religiöse Argumente für zu kontrovers. Dem hält Perry in seinem Buch Under God? Religious Faith and Liberal Democracy entgegen, dass die säkulare Begründung moralischer Positionen nicht weniger kontrovers ist als die religiöse und dass sehr vieles darauf hindeutet, dass alle ethischen Positionen zumindest implizit religiös sind. Die Forderung, religiöse Argumentationen aus der öffentlichen Diskussion zu verbannen, hält Perry für eine Position, die selber kontrovers und „sektiererisch“ ist.37

      Es ist unmöglich, unsere Überzeugungen von dem, was wirklich zählt, wie einen Mantel an die Garderobe zu hängen, wenn wir uns in die Öffentlichkeit begeben. Nehmen wir als Beispiel das Ehe- und Scheidungsrecht. Ist es möglich, hier unabhängig von unseren Weltanschauungen zu von allen als „vernünftig“ anerkannten Gesetzen zu kommen? Ich glaube, nein. Unsere Ansichten darüber, was hier „recht“ ist, hängen unweigerlich von dem ab, was wir als den Sinn der Ehe betrachten. Wenn ich glaube, dass die Ehe in erster Linie dazu da ist, Kinder aufzuziehen und so die Stabilität der Gesellschaft zu gewährleisten, werde ich die Scheidung so schwer wie möglich machen. Glaube ich dagegen, dass die Ehe vor allem dazu da ist, die beiden Partner „glücklich“ zu machen, werde ich die Hürde für eine Scheidung wesentlich niedriger legen. Die erste Definition von Ehe gründet in einem Weltbild, in dem das Ganze der Familie wichtiger ist als der Einzelne, wie in der Ethik des Konfuzianismus, Judentums und Christentums. Die zweite Definition gründet in einer individualistischeren, dem Denken der Aufklärung verpflichteten Sicht vom Wesen des Menschen. Welches Scheidungsrecht ich für „praktikabel“ halte, hängt davon ab, welche Vorstellungen ich von einem erfüllten, sinnvollen