Jesus und die Märtyrer
Die Berichte in den Evangelien zeigen uns keinen Jesus, der mit der entschlossenen Furchtlosigkeit eines Helden in seinen Tod ging. Leuchtende Vorbilder für mutiges Bekennen in Zeiten der Verfolgung waren seinerzeit die Märtyrer der Makkabäer, der jüdischen Aufständischen zur Zeit des Seleukidenkönigs Antiochus IV. Epiphanes, die, noch während man ihnen Arme und Beine abhackte, trotzig ihren Glauben an Gott bekannten. Bei Jesus ist von alledem nichts zu sehen. Im Garten Gethsemane wurde er angesichts seines nahenden Todes von so tiefer Angst und Depression ergriffen, dass er zu seinen Jüngern sagte: „Ich zerbreche beinahe unter der Last, die ich zu tragen habe“ (Markus 14,34). Lukas beschreibt ihn in dieser Szene als jemanden, der solche „Todesängste“ litt, dass sein Körper in eine Art Schockzustand fiel (Lukas 22,44). Matthäus, Markus und Lukas berichten einmütig, wie Jesus nach einem Weg suchte, nicht ans Kreuz gehen zu müssen: „Vater, wenn es möglich ist, bewahre mich vor diesem Leiden“ (Lukas 22,42; vgl. Markus 14,36, Matthäus 26,39). Und als er dann am Kreuz hing, rief er seine Anhänger nicht dazu auf, Gott treu zu bleiben, sondern schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46).
Warum tat Jesus sich mit seinem Tod so viel schwerer als andere Glaubenszeugen, einschließlich seiner eigenen Jünger?
Der Todeskampf Jesu am Kreuz (durch langsames Ersticken und Blutverlust) dauerte drei Stunden. Es war ein furchtbarer Tod, aber viele Märtyrer sind einem ungleich schlimmeren Tod viel ruhiger und zuversichtlicher entgegengetreten. Zwei berühmte Beispiele sind die englischen Märtyrer Hugh Latimer und Nicholas Ridley, die 1555 wegen ihres protestantischen Glaubens in Oxford auf den Scheiterhaufen kamen. Als die Flammen hochzüngelten, sagte Latimer ruhig: „Seien Sie getrost, Mr Ridley, und seien Sie ein Mann! Wir wollen heute mit Gottes Gnade ein Licht in England anzünden, das nie mehr verlöschen soll!“
Warum tat Jesus sich mit seinem Tod so viel schwerer als andere Glaubenszeugen, einschließlich seiner eigenen Jünger?
Der leidende Gott
Um das Leiden Jesu am Ende der Evangelien richtig zu verstehen, müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, wie er an ihrem Anfang vorgestellt wird. Der Evangelist Johannes führt uns in seinem ersten Kapitel in die geheimnisvolle, aber zentrale Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ein. Der Sohn Gottes ist nicht ein Geschöpf, sondern war selber an der Schöpfung beteiligt und ist seit aller Ewigkeit „in des Vaters Schoß“ (Johannes 1,1852), d. h. in einer Beziehung der absoluten Intimität und Liebe zu ihm. Als er dann am Kreuz hing, war er von seinem Vater getrennt.
Es gibt vielleicht keine größere seelische Qual als den Verlust einer Beziehung, ohne die wir nicht leben können. Wenn ein bloßer Bekannter sich gegen uns wendet, uns kritisiert und sagt, dass er nichts mehr mit uns zu tun haben will, tut das weh. Wenn jemand, in den wir uns verliebt haben, dies macht, tut das um einiges mehr weh. Aber wenn unser Ehepartner oder (wenn wir noch klein sind) unsere Eltern das tun, tragen wir einen meist unendlich größeren seelischen Schaden davon.
Wir können uns nicht vorstellen, wie es ist, nicht nur die Liebe eines Ehepartners oder der Eltern zu verlieren, die erst seit einigen Jahren bestand, sondern die unendliche Liebe, mit der Jesus von seinem Vater von aller Ewigkeit an geliebt worden war. Es muss ein Leiden gewesen sein, das selber unendlich war, auf ewig unerträglich. Die christliche Theologie ist sich immer darüber im Klaren gewesen, dass Jesus an unserer Stelle die ewige Trennung von Gott durchlebte, die die ganze Menschheit verdient hat. Als er im Garten Gethsemane einen ersten Vorgeschmack auf diese Trennung erhielt, war dies so furchtbar, dass er beinahe darunter zerbrach. Der Neutestamentler Bill Lane schreibt: „Als Jesus vor seiner Gefangennahme die Nähe seines Vaters suchte, fand er nicht den Himmel, sondern die Hölle offen, und es brachte ihn ins Stolpern.“53 Jesu Schrei am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ ist eine tiefe Beziehungsaussage. Lane kommentiert: „Es liegt eine schonungslose Echtheit in diesem Schrei … Als Jesus starb, schwor er Gott nicht ab. Selbst in dem Höllenfeuer der Gottestrennung gab er seinen Glauben nicht auf. Sein verzweifelter Gebetsschrei am Kreuz war zugleich eine Bestätigung: ,Mein Gott, mein Gott.‘“54 Noch in der Stunde der unendlichen Trennung vom Vater benutzt Jesus die Sprache der Intimität – „mein Gott“.
Erlösung und Leiden
Der Tod Jesu war qualitativ anders als jeder andere Tod, den es je gegeben hat. Sein körperliches Leiden war nichts im Vergleich zu der inneren Qual der absoluten Verlassenheit.55 Das Christentum ist die einzige Religion in der Welt, die behauptet, dass Gott wirklich und einmalig Mensch geworden ist in Jesus Christus und daher aus eigenem Erleben weiß, was es heißt, verzweifelt, verlassen, einsam und arm zu sein, um einen Menschen zu trauern oder Folter und Gefängnis zu erleiden. Am Kreuz ging er über das schlimmstmögliche menschliche Leiden noch hinaus und durchlitt eine kosmische Ablehnung und Verurteilung und eine Qual, die unsere Verlassenheit und Qual ebenso unendlich übersteigt, wie sein Wissen und seine Macht die unsere übersteigen. In Jesu Tod leidet Gott in Liebe und identifiziert sich mit den Verstoßenen und Verlassenen.56 Warum hat er das getan? Die Bibel sagt, dass Jesus auf die Erde kam, um die Schöpfung zu erlösen. Er zahlte die Strafe für unsere Sünden, damit er eines Tages das Böse und das Leiden vernichten kann, ohne uns zu vernichten.
Wo stehen wir jetzt mit der Frage: „Warum lässt Gott Böses und Leiden zu?“ Wir blicken auf das Kreuz Jesu und wissen immer noch nicht, was die Antwort ist. Aber wir wissen, was sie nicht ist. Es kann nicht so sein, dass Gott uns nicht liebt. Es kann nicht sein, dass wir ihm egal sind. Gott nimmt unser Elend und Leiden so ernst, dass er bereit war, es selber auf sich zu nehmen. Albert Camus verstand dies, als er schrieb:
Auch der Gott-Mensch [Christus] leidet – geduldig. Man kann das Böse und den Tod nicht mehr völlig ihm in die Schuhe schieben, leidet und stirbt er doch selber. Die Nacht auf Golgatha ist deswegen, und nur deswegen, so wichtig in der Geschichte der Menschheit, weil in ihrem Dunkel die Gottheit angeblich ihr angestammtes Vorrecht ablegte und bis ans Ende, ja bis zur völligen Verzweiflung, die Todesqual durchlebte. So erklärt sich das „Lama sabachthani“ und der furchtbare Zweifel des Christus in seinem Todeskampf. 57
Wenn wir uns die christliche Lehre zu eigen machen, dass Jesus Gott ist und dass er für uns ans Kreuz ging, werden wir tief getröstet und erhalten die Kraft, den brutalen Realitäten des Lebens auf der Erde entgegenzutreten. Wir können wissen, dass Gott wahrlich Immanuel, „Gott mit uns“, ist – auch in unserem schlimmsten Leiden.
Auferstehung und Leiden
Aber ich glaube, wir brauchen noch mehr als das Wissen, dass Gott bei uns ist in unseren Nöten. Wir brauchen auch die Hoffnung, dass unser Leiden „nicht umsonst ist“. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie wichtig dieser Satz für Angehörige von Menschen ist, die durch ein Verbrechen oder ein tragisches Unglück ums Leben gekommen sind? Sie setzen sich dafür ein, Gesetze zu reformieren oder Missstände zu beseitigen, die für die Tragödie verantwortlich waren. Sie brauchen die Überzeugung, dass der Tod ihres Kindes oder Ehepartners zu neuem Leben geführt hat, dass Ungerechtigkeit letztlich zu größerer Gerechtigkeit geführt hat.
Wir brauchen die Hoffnung, dass unser Leiden „nicht umsonst ist“.
Der christliche Glaube bietet dem Leidenden nicht nur die Lehre vom Kreuz Christi, sondern auch die Tatsache seiner Auferstehung. Die Bibel lehrt, dass nach diesem irdischen Leben nicht ein abstrakt-körperloses „Paradies“ kommt, sondern ein neuer Himmel und eine neue Erde. In Offenbarung 21 werden die Menschen nicht aus der Welt in den Himmel „da