Doch dieser absolute Relativismus, so Berger weiter, funktioniert nur dann, wenn die Relativisten sich selber absolut, also gerade nicht relativ setzen.21 Wenn ich aus der gesellschaftlichen Bedingtheit allen Glaubens den Schluss ziehe, dass kein Glaube als für alle Menschen wahr betrachtet werden kann, ist diese Aussage ja selber wieder das Produkt bestimmter sozialer und kultureller Faktoren – und kann nach den Spielregeln der Relativisten nicht universal wahr sein. Der Relativismus, so Berger, relativiert sich selber und lässt sich letztlich nicht durchhalten.22 Sicher, unsere kulturellen Scheuklappen erschweren es uns, zwischen miteinander konkurrierenden Wahrheitsansprüchen abzuwägen. Die gesellschaftliche Bedingtheit von Glauben ist eine Tatsache, aber man kann sie nicht als Argument dafür benutzen, dass alle Wahrheit völlig relativ ist, oder das Argument widerlegt sich selber. Berger kommt zu dem Schluss, dass wir uns vor dem Abwägen religiöser Positionen nicht in das Klischee flüchten können, dass man die Wahrheit eben nicht erkennen könne. Die Denkarbeit bleibt uns nicht erspart, zu fragen, welche Behauptungen über Gott, über das Wesen des Menschen und über die spirituelle Realität wahr und welche falsch sind. Auf irgendeine Antwort auf diese Frage müssen wir unser Leben gründen.
Der Philosoph Alvin Plantinga vertritt seine eigene Version von Bergers These. Ihm werde oft gesagt: „Wenn Sie in Marokko geboren wären, wären Sie kein Christ, sondern ein Muslim.“ Plantingas Antwort:
Angenommen, wir räumen also ein, dass dann, wenn ich als Sohn muslimischer Eltern in Marokko und nicht christlicher Eltern in Michigan geboren wäre, meine Religion ganz anders geworden wäre. [Aber] das Gleiche gilt natürlich für den Pluralisten selber. … Wenn er in [Marokko] geboren worden wäre, wäre er heute sehr wahrscheinlich kein Pluralist. Folgt daraus also … dass seine pluralistischen Überzeugungen das Ergebnis eines unzuverlässigen Erkenntnisprozesses sind? 23
Plantinga und Berger sagen das Gleiche. Man kann nicht sagen: „Alle Aussagen über die Religionen sind historisch bedingt und relativ, außer der, die ich gerade mache.“ Warum sollten wir jemandem, der behauptet, dass niemand entscheiden kann, welcher Glaube richtig und welcher falsch ist, glauben? Tatsache ist, dass wir alle im Leben Wahrheitsbehauptungen machen und dass es sehr schwierig ist, diese Behauptungen abzuwägen, aber dass wir dazu keine Alternative haben.
„Es ist anmaßend, wenn jemand behauptet, dass seine Religion die richtige ist, und versucht, andere zu ihr zu bekehren.“
Der bekannte Religionswissenschaftler John Hick schreibt: Wenn ich merke, dass es viele Menschen gibt, die so gut und intelligent sind wie ich selber, aber einer anderen Religion angehören, und wenn sie sich nicht von meiner Religion überzeugen lassen, dann ist es arrogant, wenn ich trotzdem versuche, sie zu bekehren, oder wenn ich meine Religion für die bessere halte.24
Auch dieses Argument stolpert über sich selber. Die meisten Menschen in der Welt teilen Hicks Ansicht nicht, dass alle Religionen gleich „richtig“ sind, und viele dieser Menschen sind so intelligent und gut wie Hick und nicht bereit, ihre Meinung zu ändern. Das macht die Behauptung, dass es anmaßend und falsch sei, wenn jemand behauptet, dass seine Religion die richtige ist, selber zu einer anmaßenden und falschen Aussage.
Man hört heute oft, dass es „ethnozentrisch“ (also eine Form von Rassismus bzw. von Verblendung durch die eigene Kultur) sei, zu behaupten, dass die eigene Religion besser sei als andere. Aber ist diese Aussage nicht selber genauso ethnozentrisch? Die meisten nicht westlichen Kulturen haben keine Probleme damit, zu behaupten, dass ihre eigene Kultur und Religion die beste ist. Die Vorstellung, dass man so etwas nicht behaupten darf, ist zutiefst in der westlichen Tradition der Selbstkritik und des Individualismus verwurzelt. Wer anderen die „Sünde“ des Ethnozentrismus vorwirft, sagt damit praktisch: „Die Art, wie unsere Kultur andere Kulturen sieht, ist fortschrittlicher als eure Art.“ Womit wir eben dasselbe tun, was wir den anderen verbieten wollen.25 Der Historiker C. John Sommerville stellt fest, dass „man eine Religion nur auf der Grundlage einer anderen Religion beurteilen kann.“ Um eine Religion bewerten zu können, brauche ich gewisse ethische Kriterien, die letztlich aus meiner eigenen Religion kommen.26
Ich glaube, der Grunddenkfehler in dieser Art, sich mit der Religion allgemein und dem Christentum im Besonderen auseinanderzusetzen, ist offensichtlich: Der Skeptiker glaubt, dass jede Behauptung, im Bereich der spirituellen Realität die Wahrheit zu kennen, falsch sein muss. Aber diese Behauptung ist ja selber eine religiöse Glaubensaussage. Sie geht von dem Dogma aus, dass man Gott nicht erkennen kann oder dass Gott nur die Liebe ist, aber niemals zornig, oder dass er eine das Universum durchdringende „Kraft“ ist und nicht eine Person, die in heiligen Schriften zu uns spricht – lauter unbeweisbare Glaubensaussagen. Und dazu glauben die Vertreter dieser These auch noch, dass ihr Weltbild das bessere sei. Sie glauben, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn die Menschen ihre traditionellen Ansichten über Gott und die Wahrheit aufgeben und dafür ihre Position annehmen würden. Womit dieses Weltbild selber ein Glaube ist, der beansprucht, der allein wahre zu sein. Wenn alle Weltanschauungen, die behaupten, die einzig wahren zu sein, abzulehnen sind, dann diese ganz gewiss auch. Und wenn es nicht „intolerant“ ist, diese Anschauung zu vertreten, warum soll es dann intolerant sein, sich an eine der traditionellen Religionen zu halten?
Mark Lilla, Professor an der University of Chicago, sprach einmal mit einem intelligenten jungen Studenten der Wharton Business School, der zu Lillas Erstaunen bei einer Billy-Graham-Evangelisation „nach vorne gegangen war, um sein Leben Christus zu übergeben“. Lilla schreibt:
Ich wollte den Schritt, vor dem er da stand, problematisieren, wollte ihm die Augen dafür öffnen, dass es andere Möglichkeiten gab, zu leben, andere Methoden, Wissen und Liebe zu suchen, … ja ein neuer Mensch zu werden. Ich wollte ihn davon überzeugen, dass seine Würde davon abhing, dass er eine freie, skeptische Haltung gegenüber allen Dogmen behielt. Ich wollte … ihn retten …
Wie der Glaube will auch der Zweifel erlernt werden. Er ist eine Fertigkeit. Aber das Merkwürdige am Skeptizismus ist, dass seine Anhänger, alte wie heutige, so oft Proselytenmacher sind. Wenn ich sie lese, möchte ich oft am liebsten fragen: „Warum ist euch das alles so wichtig?“ Ihr Skeptizismus bietet keine gute Antwort auf diese Frage, und ich selber habe auch keine. 27
Wo es um die Religion geht, sind wir alle „exklusiv“ in unseren Glaubensüberzeugungen, nur auf verschiedene Arten.
Lilla macht mit seiner weisen Selbsterkenntnis deutlich, wie seine Zweifel am Christentum selber den Status eines erlernten, alternativen Glaubens haben. Er glaubt, dass die Würde des Einzelnen von seinem Skeptizismus in Glaubensfragen abhängt – was natürlich selber ein Glaubenssatz ist. Er gibt offen zu, dass er nicht anders kann, als zu glauben, dass es besser wäre, wenn die Menschen seine Sicht der Realität und der Menschenwürde übernähmen und nicht die von Billy Graham.
Die Behauptung, dass die Religion X die einzig richtige ist, ist nicht engstirniger als die Aussage, dass die Art Y, über die Religionen zu denken (nämlich dass sie alle gleich sind), die einzig richtige ist. Wo es um die Religion geht, sind wir alle „exklusiv“ in unseren Glaubensüberzeugungen, nur auf verschiedene Arten.
3. Religion zur Privatsache machen?
Die dritte Strategie, um das Sicherheitsrisiko Religion unter Kontrolle zu bringen, besteht darin, den Menschen zu erlauben, in ihrer Privatsphäre ihre Religion für die einzig richtige zu halten und sie auch „evangelisieren“ zu lassen, aber in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit die Religion strikt auszublenden. Einflussreiche Denker wie John Rawls und Robert Audi argumentieren, dass man in der öffentlichen ethischen Diskussion nur solche moralischen Positionen vertreten darf, die säkular und nicht religiös begründet sind. Rawls ist bekannt geworden für seine Forderung, „umfassende“ religiöse Lehren aus dem öffentlichen Diskurs auszuschließen.28 Und vor Kurzem unterzeichneten zahlreiche Wissenschaftler und Philosophen eine „Erklärung zur Verteidigung von Wissenschaft und Säkularismus“, die die amerikanische Regierung aufforderte, „es nicht zuzulassen, dass Gesetzgebung oder Exekutive von der Religion beeinflusst werden.“29 Zu den Unterzeichnern gehörten u.a.