In den USA wie in Europa nimmt die Zahl der Menschen, die nicht zur Kirche gehen, stetig zu.1 Die Zahl der Amerikaner, die bei Umfragen angeben, keiner Religion anzugehören, hat sich im vergangenen Jahrzehnt verdoppelt bis verdreifacht.2 Bereits vor einem Jahrhundert verwandelten sich die meisten Universitäten in den USA aus formal christlichen zu offen säkularen Institutionen.3 Das Ergebnis ist, dass Menschen mit traditionell religiöser Prägung wenig Zugang zu den Korridoren der kulturellen Macht haben. Doch während einerseits immer mehr Menschen von sich sagen, sie seien nicht religiös, erleben andererseits Kirchen, die, scheinbar altmodisch-naiv, an die Unfehlbarkeit der Bibel und an Wunder glauben, in den USA ein reges, in Afrika, Lateinamerika und Asien ein explosionsartiges Wachstum. Selbst in vielen Ländern Europas gibt es durchaus wachsende Kirchen.4 Und in den USA ist trotz der Säkularisierung der meisten Universitäten und Colleges der Glaube in einigen Ecken der akademischen Welt auf dem Vormarsch. Man schätzt, dass derzeit zwischen 10 und 25 Prozent der Philosophiedozenten und -professoren in den USA gläubige Christen sind, gegenüber weniger als einem Prozent vor 30 Jahren.5 Der bekannte Akademiker Stanley Fish hatte möglicherweise diesen Trend im Auge, als er berichtete: „Als Jacques Derrida [im November 2004] gestorben war, rief mich ein Reporter an und wollte wissen, was nach der hohen Theorie und dem Triumvirat von Rasse, Geschlecht und Klasse nun das nächste Zentrum der intellektuellen Energie in der akademischen Welt werden würde. Ich erwiderte wie aus der Pistole geschossen: die Religion.“6
Die Theorie, dass der wissenschaftliche und technische Fortschritt unweigerlich zur Säkularisierung führt, gehört wohl auf den Müllhaufen der Geschichte.
Kurz: Wenn es um Religion geht, erleben wir derzeit eine wachsende Polarisierung der Welt: Sie wird gleichzeitig immer religiöser und immer weniger religiös. Es gab eine Zeit, da glaubten die Intellektuellen, dass die säkularisierten europäischen Länder die Vorreiter für den Rest der Welt sein würden. Die Religion, so dachte man, würde aussterben, zumindest aber sich so „verdünnen“, dass die traditionellen, auf das Übernatürliche ausgerichteten Formen verschwinden würden. Aber die Theorie, dass der wissenschaftliche und technische Fortschritt unweigerlich zur Säkularisierung führt, wird inzwischen verworfen oder radikal neu formuliert.7 Selbst Europa steht möglicherweise eine nichtsäkulare Zukunft bevor; hier erlebt das konservative Christentum ein moderates, der Islam ein stürmisches Wachstum.
Die beiden Lager
Doch jetzt zunächst zu mir. Ich spreche aus einer vielleicht etwas ungewöhnlichen Perspektive über dieses Doppelphänomen. Ich bin in einer lutherischen Kirche im östlichen Pennsylvanien aufgewachsen. Anfang der 1960er-Jahre kam mein zweijähriger Konfirmandenunterricht. Ziel des Unternehmens: die jungen Leute tiefer in ihren Glauben einzuführen, damit sie sich bei der Konfirmation vor der Gemeinde dazu bekennen konnten. Im ersten Jahr wurden wir von einem Pastor im Ruhestand unterrichtet, der sehr konservativ war und oft von der Hölle sprach und wie wichtig es war, einen großen Glauben zu haben. Im zweiten Jahr wurde er dann durch einen jungen Pastor abgelöst, der frisch von der Universität kam, ein sozialer Aktivist war und tiefe Zweifel an der traditionellen christlichen Lehre hatte. Es war fast, als hätte man uns zwei verschiedene Religionen präsentiert: Im ersten Unterrichtsjahr standen wir vor einem heiligen, gerechten Gott, dessen Zorn man nur mit Mühe besänftigen konnte. Im zweiten Jahr hörten wir von einem Geist der Liebe, der das Universum durchwehte und der von einem erwartete, dass man für die Menschenrechte und die Befreiung der Unterdrückten kämpfte. Ich hatte große Lust, die beiden Pastoren zu fragen: „Wer von euch beiden lügt?“, aber das traute ich mich mit meinen 14 Jahren dann doch nicht und hielt lieber meinen Mund.
Später gingen meine Eltern in eine kleine methodistische Kirche, wo meine religiöse Entwicklung mehrere Jahre lang erneut vom Feuer-der-Hölle-Lager geprägt wurde, obwohl der Pastor und die Gemeindeglieder persönlich die liebenswertesten Menschen waren. Dann ging ich als junger Mann auf eine der netten, kleinen, liberalen Universitäten im Nordosten der USA, die sofort begann, das Höllenfeuer mit dem Wasser des Säkularismus zu löschen.
Die Abteilungen für Geschichte und Philosophie waren radikal gesellschaftskritisch und massiv von der neomarxistischen kritischen Theorie der Frankfurter Schule beeinflusst. Im Jahre 1968 war das angesagt! Faszinierend fand ich besonders den sozialen Aktivismus und die Kritik der bürgerlichen amerikanischen Gesellschaft – aber die philosophische Untermauerung irritierte mich. Ich hatte den Eindruck, dass bei beiden der feindlichen Lager, die ich da vor mir hatte, etwas grundlegend falsch lief. Die Leute, die so nach sozialer Gerechtigkeit schrien, waren moralische Relativisten, und den Leuten, die die Moral hochhielten, schien die Unterdrückung in der Welt egal zu sein. Emotional zog es mich zum ersten Lager hin (welchem jungen Menschen wäre es anders gegangen?): Befreit die Unterdrückten und schlaft, mit wem ihr wollt … Aber die Frage ließ mich nicht los: „Wenn Moral relativ ist, warum soll es dann mit der sozialen Gerechtigkeit nicht genauso sein?“ Widersprachen meine Professoren und ihre Jünger sich da nicht selber? Aber befanden sich die konservativen Kirchen nicht in einem ebensolchen Selbstwiderspruch? Wie konnte ich mich wieder einem Glauben anschließen, der die Rassentrennung im Süden der USA und die Apartheid in Südafrika unterstützte? (Was damals in traditionellen, christlichen Kreisen meist der Fall war.) Der Glaube, in dem ich aufgewachsen war, schien mir immer unwirklicher zu werden – aber ich sah auch keine brauchbare Alternative für mein Leben und Denken.
Bei beiden der feindlichen Lager, die ich da vor mir hatte, lief etwas grundlegend falsch.
Ich wusste das damals noch nicht, aber dieses religiöse „Niemandslandgefühl“ hatte seine Ursache in drei inneren Barrieren, die ich mit mir herumtrug. Im Laufe meiner Studentenjahre zerbröckelten sie nach und nach, sodass mein Glaube lebendig wurde. Die erste Barriere war eine intellektuelle. Ich rang mit einer ganzen Reihe schwieriger Anfragen an das Christentum: Wie war das mit den anderen Religionen? Mit dem Problem des Bösen und des Leides? Wie konnte ein liebender Gott richten und strafen? Warum sollte man überhaupt etwas glauben? Ich begann, Bücher zu lesen und Argumente zu durchdenken, das Für und Wider abzuwägen, und langsam, aber sicher fand ich den christlichen Glauben immer überzeugender. Der Rest dieses Buches zeigt Ihnen, warum ich das heute noch so sehe.
Die zweite Barriere war eine mehr persönliche. Als Kind kann man sich mit seinem Glauben auf die Autorität der Erwachsenen gründen, aber wenn wir dann selber erwachsen werden, brauchen wir auch die persönliche Erfahrung aus erster Hand. Ich hatte viele Jahre lang brav gebetet, dann und wann auch beim Anblick des Meeres oder der Berge diese ästhetische Ehrfurcht verspürt, aber nie hatte ich persönlich Gottes Gegenwart erfahren. Bei diesem Problem ging es nicht so sehr um das Erlernen irgendwelcher Gebetstechniken, sondern um einen Prozess, in dem ich mich meinen eigenen Bedürfnissen, Fehlern und Problemen stellte. Es war ein schmerzlicher Prozess, angestoßen, wie so oft, von Enttäuschungen und Versagenserlebnissen. Es würde ein zweites, anderes Buch brauchen, Ihnen dies im Einzelnen zu erzählen. Lassen Sie mich Ihnen hier nur sagen, dass eine Glaubensreise nie eine bloße intellektuelle Übung für die grauen Zellen ist.
Die dritte Barriere schließlich war gewissermaßen eine soziale. Ich musste dringend eine „dritte Fraktion“ finden, eine Gruppe von Christen, denen die Gerechtigkeit in der Welt wichtig war, aber die dieses Anliegen aus dem Wesen Gottes ableiteten und nicht aus irgendwelchen subjektiven Gefühlen. Als ich diese „anderen“ Brüder und Schwestern fand, wurde mein Leben anders.
Diese drei Barrieren fielen nicht schnell, und auch nicht in einer bestimmten Reihenfolge. Sie waren ineinander verwoben, die eine hing von der anderen ab, und ich ging sie nicht systematisch an. Erst im Rückblick sehe ich, wie diese drei Faktoren zusammenwirkten. Da ich also ständig jene „dritte Fraktion“ suchte, erwachte mein Interesse an der Gründung und Gestaltung neuer christlicher Gruppen und Gemeinden. Aber das hieß natürlich, dass ich Pastor werden musste. Und so wurde ich Pastor, nur wenige Jahre nach meinem Studium.
Gott in Manhattan
Ende der 1980er-Jahre