Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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rollte über das weite Hochland des Piedmont; es war Nacht; matt und fiebrig wie ein Kranker döste Eugen vor sich hin. Der Zug schnob ins Gebirg. Dunkel ragten die verschneiten, schwarzbeforsteten Berge. In seinen vereisten Ufern zog weiß ein Fluß durchs Tal. Eugens Herz hob sich beim Anblick der ewigen Berge. Er war hier geboren! Aber als er in der Tagesfrühe mit den andern Studenten ausstieg, war er wieder niedergeschlagen. Die kleinen, billigen Häuser am Bahnhof kamen ihm gemeiner und näher vor als je. Der Berghang hinterm Bahnhofsviertel mit den winzigen, hochgepfropften Häusern war unnatürlich nah wie eine Vision. Der Stadtplatz schien während seiner Abwesenheit zusammengerückt zu sein, und als er aus der Trambahn ausstieg und nach Dixieland hinunterging, kam er sich vor wie ein Riese, der die Entfernungen der Spielzeugstadt mit seinen Schritten durchmißt.

      Die Weihnachten waren grau und kalt. Helenes Wärme fehlte. Gant und Eliza vermißten sie sehr. Auch Lukas war nicht heimgekommen. Ben kam und ging wie ein Gespenst. Und Eugen war krank vor Scham über das Verlorne.

      Er wußte nicht, wo er sich hinwenden sollte. Er ging nachts murmelnd in seinem kalten Zimmer auf und ab, bis Eliza im Hauskleid mit sehr bekümmertem Gesicht in der Tür erschien. Sein Vater war leiser, älter geworden; er war geistesabwesend und vergrämt. Gleichgültig erkundigte er sich bei dem Sohn über das Leben auf der Universität. Eugens Kehle war wie zugeschnürt. Er stammelte ein paar verlegne Antworten und floh das Haus, floh vor der leeren Angst in Gants Augen. Er lief planlos herum, Tag und Nacht. Er versuchte, seiner Angst Herr zu werden. Er bildete sich ein, am Aussatz zu verfaulen. Und daß er unheilbar verseucht sei. Denn so hatten ihn die Moralisten in seiner Jugend unterrichtet.

      Ziellos, planlos, verzweifelt lief er herum. Er war außerstand, seinen ruhlosen Gliedern Rast zu gönnen. Er schweifte über die Hänge der östlichen Berge, die hinter der Negerstadt aufragten. Die Wintersonne kämpfte mit dem Nebel; drunten auf den Matten und hoch auf den Gipfeln lag das Licht auf der Erde wie Milch.

      Er blieb stehen, blickte umher. Ein Hoffnungsstrahl drang in seine Geistesnacht. Ich werde zu meinem Bruder gehen, dachte er.

      Er fand Ben in der Woodson Street, noch im Bett, rauchend. Er schloß die Tür, raste wild im Zimmer herum, wie ein gereiztes Tier im Zwinger.

      »Bist Du verrückt geworden«, rief Ben wütend. »Was ist los mit Dir?«

      »Ich bin – – krank«, keuchte er.

      »Was ist los? Wo fehlt's? Wo bist Du gewesen?« fragte Ben scharf. Er richtete sich im Bett auf.

      »Mit 'ner Frau«, gestand Eugen.

      »Setz Dich mal, Eugen«, sagte Ben ganz ruhig nach einer Pause. »Sei doch so kein kleiner Blödel! Du wirst nicht dran sterben, weißt Du. Wann war es?«

      Eugen platzte mit dem Geständnis heraus.

      Ben stand auf und zog sich an.

      »Komm«, sagte er. »Wir gehn zu McGuire.«

      Als sie zur Stadt hinaufgingen, versuchte Eugen zu reden, wirre Erklärungen, gestammelte Rechtfertigungen vorzubringen.

      »Es war so«, legte er selbstanklägerisch los, »weißt Du, wenn ich geahnt hätte, aber ich hatte doch gar keinen Begriff, natürlich, es war mein Fehler, ganz meine Schuld …«

      »Um Himmels willen!« fauchte Ben ungeduldig, »hör doch auf mit dem verdammten Gewäsch! Ich bin doch nicht Dein Schutzengel.«

      Immerhin: trostreich die Nachricht, daß so viele Männer seit unsrer Austreibung aus dem Paradies damit geschlagen sind, sehr trostreich.

      Sie gingen durch den weiten Korridor des Doctor's and Surgeon's Building. Die aufregenden, scharfen, medizinischen Gerüche. McGuires Wartezimmer war leer. Ben klopfte an die Innentür. McGuire öffnete, löste die nasse Zigarette, die ihm an der Lippe klebte, grüßte:

      »Hallo, Ben!« bellte er. Er sah Eugen. »Hallo, mein Sohn. Seit wann bist Du zurück?«

      »Er bildet sich ein, daß er an der galoppierenden Schwindsucht eingeht«, erklärte Ben mit einem Handschnicken. »Vielleicht können Sie was tun, McGuire, um sein Leben zu verlängern?«

      »Wo fehlt's denn, Sohn?« fragte McGuire.

      Eugen schluckte trocken, verrenkte den Hals.

      »Kann ich Sie allein sprechen?« würgte er hervor. Er wandte sich verzweifelt an seinen Bruder. »Bitte, Ben, wart hier auf mich. Ich kann Dich nicht dabei haben.«

      »Ich denk ja gar nicht dran, mit reinzukommen«, sagte Ben mürrisch. »Ich hab an meinen eignen Sorgen genug.«

      Eugen folgte dem vierschrötigen McGuire ins Ordinationszimmer. McGuire setzte sich an den mit Papieren beladnen Schreibtisch.

      »Setz Dich, Sohn«, befahl er. Er zündete eine Zigarette an. »So, und jetzt sag mir, was mit Dir los ist.« Er sah dem Jungen scharf in das verkrampfte Gesicht. »Vor allen Dingen, ruhig Blut, Junge! Vermutlich ist die Sache halb so schlimm, wie Du Dir vorstellst.«

      »Es kam so«, fing Eugen leise an. »Ich habe einen Fehltritt getan. Ich weiß das. Und ich bin bereit, die Folgen auf mich zu nehmen. Ich will mich nicht mit Entschuldigungen herausreden.« Seine Stimme wurde schrill. Er war halbaufgestanden und schlug heftig mit der Faust auf den unaufgeräumten Schreibtisch. »Ich lade niemandem die Schande auf, ich mache keinem Menschen einen Vorwurf, verstehen Sie?«

      Der Arzt sah den Patienten bestürzt an; die nasse Zigarette hing lose in seinen halbgeöffneten Lippen.

      »Was soll ich verstehen?« fragte er. »Hör mal, Junge, wovon sprichst Du eigentlich? Weiß der Teufel, ich bin kein Sherlock Holmes, das dürfte Dir bekannt sein. Ich bin Dein Arzt: also sprich frei von der Leber weg!«

      Der Junge antwortete mit bitter verzognem Gesicht.

      »Was ich getan habe«, erklärte er dramatisch, »haben Tausende getan. Sie gestehn es bloß nicht ein. Aber es ist trotzdem wahr. Sie sind Arzt und wissen, daß es wahr ist. Leute aus der besten Gesellschaft sogar tun es. Ich bin einer von denen, die Pech haben. Ich bin reingefallen. Warum soll ich also schlechter sein als sie? Warum also …«, fuhr er rhetorisch fort.

      »Aha!« sagte McGuire. »Mir geht ein Licht auf! Laß mich mal die Sache besehn!«

      Eugen gehorchte fieberhaft, immer weiter deklamierend.

      »Warum soll ich das Brandmal tragen, wenn andre ungestraft ausgehn? Heuchler, verdammte, schmutzige, winselnde Heuchler, das sind sie! Sie messen mit zweierlei Maß! Wie soll man da an Ehre glauben? Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Warum soll ich dafür angeklagt werden, wenn Leute aus der besten Gesellschaft …«

      McGuire hob den großen Kopf mit dem Kritikerblick und bellte komisch:

      »Ei, wer klagt Dich denn an? Bildest Du Dir vielleicht ein. Du. wärst der erste, der sich was geholt hat? Außerdem fehlt Dir überhaupt nichts!«

      »Können Sie mich kurieren?« fragte Eugen langsam.

      »Nein, Du bist unheilbar, Sohn«, sagte McGuire. Er kritzelte ein paar Hieroglyphen auf den Rezeptblock. »Das bringst Du zum Apotheker«, sagte er, »und das nächste Mal gibst Du besser acht, mit wem Du Dich einläßt. Leute aus der besten Gesellschaft? So?« Er grinste. »Mit denen willst Du Dich amüsiert haben?«

      Dem Jungen war ein Fels vom Herzen gehoben, ihm schwindelte vor Glück, er war toll vor Übermut. Er stieß wirre, unbewußte Worte hervor. Er öffnete die Tür zum Wartezimmer. Ben sprang nervös auf.

      »Na, wie lang hat er noch zu leben?« Ernsthaft und leis aber fragte er den Arzt: »Nichts Ernstes, wie?«

      »Überhaupt nichts«, sagte McGuire. »Aber ich glaub, er hat 'nen Sparren. Kein Wunder, Ihr habt ja alle einen.«

      Als sie wieder auf die Straße traten, fragte Ben:

      »Hast Du gefrühstückt?«

      »Nein«, sagte Eugen.

      »Wann hast Du zum letztenmal was zu Dir genommen?«

      »Gestern irgendwann, ich weiß nicht mehr genau.«

      »Du verdammter Narr!« knurrte Ben. »Komm, gehn wir essen!«

      Der