»Trag den Kopf hoch, Junge!« rief sie ihm nach. »Geh gerade, daß die Leute denken, daß Du wer bist!«
Sie hatte ihm einen Stoß gedruckter Karten mitgegeben, auf denen stand:
Verbringen Sie den Sommer in
Dixiland
im schönen Altamont
der Perle der amerikanischen Schweiz
Zivile Preise. Für Touristen. Für Dauergäste
Man wende sich an die Besitzerin
Eliza M. Gant
»Wenn wir leben wollen. Junge, dann müssen wir ein wenig Kundschaft zusammentrommeln, und Du mußt mir helfen«, bemerkte sie mit jener lippenschürzenden, mundverzognen Scherzhaftigkeit, die ihm so entsetzlich wehtat, weil er spürte, daß sie die augenscheinliche Maske einer noch augenscheinlicheren Unaufrichtigkeit war.
Das Herz krampfte sich ihm zusammen, als er schließlich einsah, daß er sich wie ein zahmer, abgehärteter Dickhäuter in Elizas Welt ausnahm. Er »trug den Kopf hoch«, er bemühte sich, den Eindruck zu schinden, daß er »wer« wäre, überreichte die Empfehlungskarte und schilderte auf Befragen die Freuden des Lebens in Altamont und die Annehmlichkeit der Unterkunft in Dixieland. Er ergriff jede Gelegenheit, um »Kundschaft zusammenzutrommeln«. Er haßte Berufsjargon; Eliza, die ihn seit langem angenommen hatte, drückte sich mit Vorliebe darin aus. Sie schmatzte mit den Lippen, wenn sie »Dauergäste« oder »Kundschaft zusammentrommeln« aussprach. Genau wie Gant war auch Eugen im stillen entsetzt, daß man für Geld das Brot auf seinem Tisch, den Schutz seiner Vierwände an den Gast, den Fremden, den unbekannten Freund aus der Welt, an den Siechen, den Lebensmüden, den Einsamen, den Zerbrochenen, den Schuft, die Hure, den Narren verkaufen könne.
Sein Blick war an die fernen blauen Berge der Ozarks verloren. Er ging die gebirgige Central Avenue hinauf, zu beiden Seiten ragten Berge. Berge, die für ihn die Grenze der Bezauberung, die nahe Pforte in ein zeitloses, unaufhörliches Feenland waren. Er trank vom Wasser der kochenden Brunnen in der Hoffnung, sich von allem Makel reinzuwaschen. Ein Traum, den er sein Leben lang träumen sollte, der Traum vom Jungbrunnen fing in ihm an. Er badete bis zum Hals im heilsamen Schlamm, der jeden Tropfen verderbten Bluts aus den Adern ziehen und dem Menschen wieder das Gewebe eines vollkommenen, reinen Geschöpfes verleihen soll.
Und stundenlang starrte er in die Eingangshallen der großen modischen Hotels, starrte er auf die Beine der Damen auf den Veranden, beobachtete er die Großen des Landes bei ihrer Erholung. Er bedachte – und das Herz klopfte ihm vor Staunen und Wundern –, daß er Gestalten aus Gesellschaftsromanen vor sich habe, die hier statt auf dem Papier in Fleisch und Blut ihr göttergleiches Leben führten. Er empfand die tiefste Ehrfurcht vor der großen Welt jener Bücher, besonders der englischen: Da liebten die feinen Leute, aber im Gegensatz zu den gewöhnlichen Sterblichen liebten sie elegant; ihre Redeweise war subtil, exquisit, delikat; selbst in ihren Leidenschaften bezeigten sie nie grobe Gelüste oder heftigen Hunger; sie waren völlig außerstand niedrig zu denken, fleischliche Gier zu empfinden. Wenn Eugen die schönen Schenkel einer vorbeireitenden Dame sah, dann wunderte er sich, ob sie wohl der gute Geruch des Pferds, der warme wogende Rücken des Tiers begeistern und beschwingen könne; er fragte sich, wie so eine Dame lieben würde. Die dickaufgetragne Eleganz ihres Gehabens in den Romanen beeindruckte ihn sehr; er glaubte, daß in jener Welt Frauen mit Glacehandschuhen und schlagfertigen feinsinnigen Geistreicheleien verführt würden. Solche Gedanken erfüllten ihn mit Scham über seine eigne Niedrigkeit. Er stellte sich vor, daß die feinen Leute jenseits der Naturgesetze liebten, daß sie die Wollust der Tiere und der gemeinen Menschen schon bei der elektrisierenden Fingerberührung, dem zuckenden Aufblick der Augen, bei ein paar erregenden Worten empfänden.
Und wenn diese Leute ihm ins traumverlorne Gesicht sahen – dies Gesicht, das nun, nachdem die Locken gefallen waren, noch fremder war als zuvor –, da kauften sie von ihm und zahlten das Vielfache des Preises mit der lässigen Bußfertigkeit von Verschwendern.
In den Fenstern der Restaurants schwammen große Fische in Glaskästen; Aale rollten sich schlangenhaft, weißbäuchige, große Forellen drehten sich, ließen sich sinken. Eugen träumte von unbekannten üppigen Mählern an den Tischen dieser Gaststätten.
Manchmal kamen Männer mit fischbeladnen Wagen von dem großen Fluß herüber. Da fragte er sich, ob er wohl je diesen Fluß, den Missouri, sehen würde. Was hier nah und unerkundet in der Gegend lag, erfüllte ihn mit Sehnsucht.
Und später wieder! Da reiste er mit Eliza die sandige Küste von Florida entlang, erging sich auf den schmalen Wegen in Saint Augustine, rannte auf dem betonharten Strand von Daytona. In Palm Beach wetzte er einmal über die grünen Rasenplätze vor den Hotels, um Kokosnüsse zu kaufen, die Eliza als Souvenirs nach Altamont mitnehmen wollte; er erstand einen Sack voll, lud ihn sich auf die Schultern und schleppte die Last durch die nicht endenwollenden Gartenrestaurants der »Royal Poinciana« und »Breakers«, Gegenstand des Zorns, des Skandals, des Amüsements für Sklaven und Prinzen. Er streifte auf den breiten, palmschattigen Wegen, die die Halbinseln queren, um am Badestrand die sinnlich gelösten seidigen Frauenbeine und die hageren gebräunten Körper der Männer zu sehen –, und die breitanbrandenden, sich, überstürzenden Wogen, das endlose smaragdgrüne Meer, das aus Muscheln, die sein Vater besaß, in sein Gemüt gerauscht, in seinem Herzen gedröhnt hatte, das er aber bisher nie gesehen hatte. Durch die huschenden Sonnenkringel unter den Palmen, auf den weichen Spazierwegen ließen sich Prinzessinnen und Lords von Negern in Rollstühlen fahren; in den vergitterten Bar-rooms, in denen große Fächer summten, saßen Herren und tranken aus beschlagnen, hochstieligen Kristallgläsern.
Und später wieder! Sie reisten nach Jacksonville und lebten dort ein paar Wochen in der Nähe von Pett und Greeley. Ein kleiner buckliger Mann, der die Harvard-Universität besucht hatte, gab ihm Unterricht. Er aß mit seinem Lehrer in einem Büfettrestaurant; der Lehrer trank Bier und aß Brezeln dazu. Als sie abreisten, weigerte sich Eliza, die bescheidne Summe zu bezahlen, die der Mann für seine Lehrtätigkeit verlangte. Der Bucklige zuckte die Achseln und nahm, was sie ihm anbot. Eugen verrenkte den Hals und hob scharf den Fuß vom Boden, wie jemand, der sich vor plötzlichem Schmerz windet.
So sah er, der aus dem verketteten, vom Himmel gegürteten Gebirg kam, er, dessen Meister die Berge waren, zuerst den fabulösen Süden. Bilder von vorüberwehenden Felsen, Wäldern, Hügeln blieben ihm für immer im Herzen. An die dunkle Landschaft draußen verloren lag er nächtelang auf der Liege im Pullmanwagen und sah, wie das schattende, schemenhafte Land vorüberflog; schlief schließlich ein und erwachte plötzlich, um die kühlen Seen von Florida im Tagesgrauen zu sehn, die dalagen, als hätten sie von Ewigkeit her auf diese Begegnung gewartet. Oder er hörte, als der Zug in den noch dunklen Morgenstunden in Savannah einlief, die ruhigen Stimmen von Männern, die sich auf dem Bahnsteig unterhielten, und die matten Echos der Halle. Oder er sah in der blassen Stunde vor Tagesanbruch gespenstische Wälder, tiefgefurchte Feldwege, eine Kuh, einen Buben, einen Menschen, der in der Tür einer Hütte döste. Er erlebte in diesem einzigen Augenblick der Zeit, was sich alles Leben zu zeugen gemüht hatte, damit es im Fenster des fahrenden Zugs erscheine und vorüber sei.
Der Gemeinschaft aller Dinge auf Erden entsann er sich mit einer sonderlichen Vertrautheit. Er träumte von den stillen Wegen, den monderhellten Wäldern, und er dachte, eines Tags würde er zu Fuß hinkommen und sie dort unverändert, mit all dem Wunder des Wiedererkennens, finden. Sie existierten für ihn von Anfang an und auf immer.
Eugen war fast zwölf Jahre alt.
Zweiter Teil
XIV
Der Pflaumenbaum wiegt sich steif im Winterwind. Seine kleinen Zweige, schwarz und spröde, sind zu tausendmaltausend Eisspeeren gefroren. Wenn's aber lenzt, wird er wieder jung werden. Schwer und geschmeidig wird er sich unter der Last von Blüte und Frucht biegen. Pflaumen werden reifen. Wenn der Wind in den Obsthag fährt, werden die Pflaumen, verzweifelt von den dünnen Stielchen gerüttelt, geborsten auf die mulmige, warmfeuchte Erde fallen. Die Luft wird voll sein vom Laut