Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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aber reichte sein Leben an ein fabelhaftes, einsames Wunder, in die Verzauberung, die nur durch Elizas geizige Gewohnheiten, ihren Mangel an Großartigkeit in einer großartigen Welt, unterbrochen wurde. Sie nahmen Mahlzeiten von mürben Brötchen und Butter und Milch in trüben Restaurants; im Speisewagen packten sie mitgebrachte Butterbrote aus einer Schuhschachtel, sobald Eliza nach einem langwierigen Studium der Karte schließlich Kaffee bestellt hatte. Beinah überall, wo sie abstiegen, gab es Schwierigkeiten wegen des Preises und Streit wegen der Rechnung. Wenn der Fahrkartenkontrolleur kam, hieß sie ihn sich zusammenzu»hutzeln«, damit seine Berechtigung auf eine halbe Fahrkarte nicht angezweifelt würde, denn Eugen war ein hochaufgeschoßner Junge.

      Auf die Herbstfahrt mit Gant nach Augusta folgte eine Winterreise mit Eliza nach Florida. Sie gingen zuerst nach Tampa, dann ein paar Tage später nach Saint Petersburg. Er watete durch den tiefen losen Sand der Straßen, saß und fischte mit munteren alten Männern am Ende des langen Piers, verschlang eine ganze Menge von 10-Cent-Räuber-Schinken, die er in einer Kiste in den möblierten Zimmern, die Eliza in einem Privathaus gemietet hatte, fand. Sie reisten ganz plötzlich ab. Es gab Krach mit dem alten Kavalier, der ihnen die Zimmer vermietet hatte und sich nun um sein Haupteinkommen für die Saison geprellt sah. Sie fuhren eiligst nach Süd-Carolina, auf eine hysterische Depesche Daisys hin, die ihrer Mama ein »Komme bitte sofort« gedrahtet hatte. Sie kamen in der trüben Kleinstadt an, es war spät im März, man blieb mit den Schuhen im lehmigen Gassenkot stecken, es regnete unausgesetzt. Daisys erstes Kind, ein Junge, war am Tage zuvor geboren worden. Eliza hielt die Unterbrechung ihrer Erholung für überflüssig und unnütz, war verärgert; zwei oder drei Tage nach der Ankunft zerstritt sie sich mit der Tochter und fuhr heim nach Altamont. Bei ihrer Abreise erklärte sie – Daisy applaudierte den Vorsatz mit Ironie –, sie würde nie wieder zu Daisy zu Besuch kommen. Aber sie hielt nicht Wort.

      Im nächsten Winter fuhren sie um die Fastnacht nach New Orleans. Eugen erinnerte sich an die großen Zisternen, die im Garten hinter dem Haus seiner Tante Mary voll mit Regenwässer standen; an das Schnarchen der Tante, von dem nachts die Fenster schepperten; und an den Mardi Gras. Der große Karnevalszug kam durch die Canal Street mit geschmückten, hochaufgestockten Narrenkutschen; die Schönen lächelten; Gruppen in grotesken und phantastischen Masken marschierten lärmend vorbei. Und wieder sah Eugen Schiffe vor Anker; die hohen Kiele ragten über die Hafenmauer am Ende der Canal Street. Auf dem Friedhof waren die Grabhügel über der Erde angelegt, weil – wie Gants Neffe Olly erklärte – »das Grundwasser für die Leichen nicht gut ist«.

      Und er erinnerte sich an die Gerüche auf dem alten französischen Markt, an den Duft des starken Kaffees, den er dort trank, und an die völlig ungewohnte Sonntagsheiterkeit der Stadt: offne Theater, Gehämmer und Gesäge aus den Werkstätten, Menschen in lustiger Stimmung auf der Straße. Er besuchte die Boyles, Stammgäste in Dixieland, die im alten französischen Viertel wohnten. Er schlief mit Frank Boyle in einem dunklen, von Kerzen matterleuchteten Saal. Die Boyles hatten als Köchin eine steinalte Negerin, die nur Französisch konnte; morgens kam sie vom Markt mit einem großen Korb voll Gemüsen, Südfrüchten, Geflügel, Fleisch. Sie bereitete fremde Gerichte von ungekannter Köstlichkeit: schweren Gumbo, garnierte Beefsteaks, Geflügel in würzigen Tunken.

      Und er blickte auf die ungeheure gelbe Schlange des Mississippi. Er träumte von den langen Ufern dieses »Vaters der Ströme«, von den unzähligen, tropisch umwucherten Flüssen, die ihn speisen, von dem merkwürdigen Leben auf den Plantagen und in den Zuckerrohrbrüchen, von Uferlandschaften im Mondlicht. Er sah Neger im Dunkel auf den Deichen tanzen, sah die langsamen Lichter der goldverstuckten Flußdampfer, Frauen an Deck mit schwarzen Haaren und duftender Haut; er hörte das geisterhafte Echo der Musik klingen unter den tief ins Wasser hängenden phantomischen Uferbäumen.

      Sie waren erst kürze Zeit von dieser Reise zurück, als Eugen eines Nachts, als er im Hause seines Vaters schlief, durch furchtbare Schreie Gants geweckt wurde. Gant hatte seit Tagen maßlos gesoffen. Eugen hatte ihn selbst am Abend mit Jannadeaus und eines Negerkutschers Hilfe heimgebracht. Nach der üblichen Bändigung des wahnsinnig Betrunknen, dem Suppeessen und dem Entkleiden erschien Doktor McGuire, gab Gant eine Spritze in den sehnigen Arm, ließ Schlafpulver zurück und ging. Helene war völlig erschöpft; auch Gant war am Ende seiner Kräfte. Ein schmerzhafter Rheumatismus fiel ihn an, die Anfälle wiederholten sich zweimal in der Nacht.

      Nun erwachte er in der Dunkelheit, schrie vor Entsetzen, vor wahnsinnigen, niegekannten Schmerzen. Seine ganze rechte Körperhälfte war gelähmt. Abwechselnd flehte er Gott an und verfluchte ihn. Es bestand die Gefahr, daß die rheumatische Entzündung sich aufs Herz schlüge. Tagelang betreuten Arzt und Pflegerin den Kranken, der sich vor Schmerz bog, krümmte, wand. Als er soweit hergestellt war, daß er reisen konnte, fuhr er unter Helenes Obhut nach Hot Springs. Wie eine Wilde trieb die Tochter alle andere Hilfe von der Seite des Kranken, sie wich nicht von ihm, schenkte ihm jeden Augenblick ihrer Zeit. Sie blieben sechs Wochen weg. Ab und zu kamen Postkarten und Briefe, berichtend von einem Leben in Hotels, Mineralbädern, Krankheit, Lähmungserscheinungen, von dem Sport, den vornehme Reiche dort im Kurort trieben. Als Gant zurückkam, konnte er wieder gehn, aber seine rechte Hand, steif und krumm nun, war für dauernd gelähmt. Er konnte die Finger nie mehr schließen. Sein Auftreten war ernüchtert und zahm; Angst, ein gewisses Entsetzen glomm in seinen Augen.

      Die Zusammengehörigkeit von Vater und Tochter aber war endgültig besiegelt. Vor Gant lag, er ahnte es selbst, eine Straße der Schmerzen, die in den Tod führte. Aber jeden Schritt dieses Weges, den er gebrochen, von seinen großen Kräften verlassen, ging, ging sie mit ihm und knüpfte so das Band, das sie zusammenhielt, über das Leben, über den Tod, über alles Gedenken hinaus, fest.

      »Ich wäre gestorben, wenn ich sie nicht hätte«, behauptete er immer wieder von Helene und prahlte unaufhörlich mit ihrer Ergebenheit und Treue, mit den Kosten der Kur, den Hotels, von dem Reichtum und den feinen Leuten, die sie zusammen gesehen hatten.

      Und während die Legende von Helenes Ergebenheit von Tag zu Tag wuchs, während Gants Abhängigkeit von ihr zunahm und stets laut verkündigt wurde, schürzte Eliza immer gedankenvoller die Lippe, weinte manchmal in das brutzelnde Fett der Bratpfanne, lächelte dann wieder unter der breitangesetzten roten Nase, ein zuckendes, bittres, furchtbar gekränktes Lächeln.

      »Ich werd's ihnen zeigen«, flennte sie, »ich werd's ihnen zeigen«, und kratzte sich gedankenvoll einen hochroten juckenden Flecken auf dem linken Handrücken, ein Ekzem, das in diesem Jahr dort ausgeschlagen war.

      Im folgenden Winter ging auch sie nach Hot Springs. Sie unterbrachen auf zwei Tage in Memphis, wo Steve gerade in einer Farbenhandlung arbeitete. Er ging mit Eugen in der Stadt spazieren, schlüpfte ab und zu in eine Bar an der Straßenecke, um »'nen Augenblick 'nen Bekannten zu sprechen«. Der Bekannte hatte die Eigenschaft – so schien es Eugen –, Steves Gang noch schlenkriger und herausfordernder zu machen.

      Eugen fuhr verschlafen auf, als der Zug über den Fluß nach Arkansas hinüberfuhr. Dann sah er verschwommen armselige Häuser auf den dunklen, malariaverseuchten Feldern.

      In Hot Springs schickte ihn Eliza gleich in die Schule. Mit einem kühnen Satz sprang er in die bestürzende neue Welt. Seine Leistungen waren glänzend und erwarben ihm die Gunst der jungen Klassenlehrerin, aber die feindselige Bande der Mitschüler ließ den Fremdling bitter büßen. Eh noch ein Monat vergangen war, hatte er schwer für seine Unkenntnis ihrer Gebräuche gezahlt.

      Eliza kochte sich täglich in den Bädern aus. Manchmal begleitete er sie. Trunken von Unabhängigkeit verließ er sie und schritt in die Männerabteilung. Er entkleidete sich, ging in den mit Liegegelegenheiten ausgestatteten Heißluftraum, schloß sich in der Dampfzelle ein, wo er in der Schweißlache, die sich zu seinen Füßen bildete, sich aufzulösen glaubte. Mit zitternden Knien kam er wieder heraus und ließ sich von einem mächtigen grinsenden Negermasseur rollen und kneten. Später lag er glorreich, ein Mann unter Männern, im Nachschwitzraum. Sie unterhielten sich von Liege zu Liege oder trugen ihre prallen Bäuche auf und ab, die Lenden keusch mit einem Badetuch gegürtet. Da waren malariakranke Männer von Mississippi; Alkoholiker mit schweren Augensäcken, Spieler mit puterroten Gesichtern; zusammengebrochne Boxer. Dampf und Männerschweiß; Eugen roch das gern zusammen.

      Eliza sorgte dafür, daß er nicht müßig