Du sollst nicht stehlen! – dachte er und zog die Hand schnell zurück. Er setzte sich stillschweigend unter den Baum und besah den Apfel. Aus Selbstvergessenheit wollte er über die Betrachtung noch einmal zulangen – du sollst nicht stehlen! fiel ihm wieder ein, und er setzte sich. Endlich wurde die Begierde so unwiderstehlich stark, daß er ein Mittel finden mußte, wie er stehlen konnte, ohne doch zu glauben, daß er stahl; denn bloß hierauf kömmt es bekanntermaßen an, um mit unsern Gewissen ein Abkommen zu treffen. – Hm! dachte er endlich, der Besitzer dieser Gegend ist gewiß ein Menschenfreund; warum sollte er sonst diese Bäume so öffentlich hieher pflanzen und ihre Früchte so unbewacht dem Appetite jedes Vorübergehenden preisgeben? – Er mußte sie gewiß pflanzen, um hungrige Reisende damit zu erquicken; wenn ich also davon genieße, so stehle ich nicht; ich erfülle seine Absicht; ich mache, daß er, ohne es zu wissen, eine Wohltat an mir ausübt, und erlange ich nicht dadurch gar eine Art von Verdienst um ihn? – Ich verhelfe ihm zu einer guten Handlung.
Nun war es ihm unumstößlich gewiß, daß er stehlen konnte, ohne zu stehlen. Er hatte sich das Wort »stehlen« wegsophistiziert, und mehr braucht es für einen menschlichen Verstand nicht; wenn er sich nur den auffallenden Ausdruck vom Halse schaffen kann – noch besser ist es, wenn er sich gar einen gelindern glänzendern unterschieben mag – wenn ein falscher stolzer Zelot sich nur aus seinem Gehirne das Wörtchen Intoleranz herauswerfen und an seine Stelle »Liebe zur Wahrheit, Religionseifer« oder so etwas hineinstecken kann – o so verbrennt, sengt, verfolgt, schmäht, verketzert er in Gottes Namen alle, die nicht seiner Meinung sind, mit so unbeflecktem Gewissen, als Knaut sich itzt von fremden Gute auf das herrlichste nährte.
L'appétit vient en mangeant – je mehr er genoß, je mehr wünschte er zu genießen und plünderte daher ohne den geringsten Gewissensbiß einen Baum nach dem andern in dem Distrikte, wo er sich aufhielt. Als er eben, weil der größte Hunger nunmehr befriedigt war, zum Nachtische einen schönen rosenwangichten Apfel mit der Muße und Begierde genießen wollte, womit die genäschige Mutter Eva die verbotne Frucht verzehrte,
– deren tötender Geschmack
Tod und alles unser Weh auf diesen Erdkreis brachte, – siehe! so faßte ihn plötzlich jemand von hinterwärts so hastig bei dem Arme, daß er erschrocken seinen ganzen Nachtisch fallen ließ und nicht wußte, wohin er zuerst sehen sollte. – »Dieb!« rief der Mann, der ihn mitten in seiner Freude gestört hatte, und nötigte ihn mit einer lakonischen Höflichkeit, ihn zu dem Orte zu begleiten, wo in diesem Lande der Gerechtigkeit Räuber einquartiert zu werden pflegten, das heißt, er faßte ihn bei dem Arme und schleppte ihn mit sich fort. »An einem Orte«, setzte er unterwegs hinzu, »wo jedermann sich schämt zu stehlen, mußt du dich nicht sehen lassen« – und fuhr in diesem Tone den ganzen Weg über fort, ihm zu zeigen, daß er unter einem Himmelsstriche geraubt habe, wo alle Leute ehrliche Leute wären. Für einen Landmann, der in dem Schweiße seines Angesichts sein Brot baute, hatte seine Rede zu viel Schwung über die gewöhnliche Denkungsart seines Standes, war mit Sentenzen von Ehre und Rechtschaffenheit so verbrämt, als wenn er ein schöner Geist wäre oder doch auf dem Wege sich befände, es zu werden. Er wußte dabei sehr vieles von der Gerechtigkeit, Güte und Strenge seines gnädigen Herrn zu rühmen, vor dessen Richterstuhle unser Philosoph erscheinen solle, und setzte am Ende hinzu, daß er und alle, die mit ihm unter dem Regimente dieses Herrn stünden, die rechtschaffensten und glücklichsten Leute in der Welt wären und stolz darauf täten.
Wahrhaftig! das ist viel gesagt! – Ob es auch wahr ist?
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Ganz falsch ist es wahrhaftig nicht; denn unter den Quellen, aus welchen ich meine Geschichte schöpfe, finde ich eben itzt eine Urkunde, die die Aussage dieses Mannes bestätigt und mich in den Stand setzt, meinen Lesern umständliche Nachricht zu erteilen.
Favete linguis! – denn wir treten in das Haus eines ehrwürdigen Greises, der durch das Nützliche, was er in seinem Leben für sein Vaterland und seinen Regenten tat, seine ansehnliche Geburt zu dem Adel des Verdienstes erhub und hier
Im Schatten edler Muße
Am Abend seines Lebens,
Gleich dem beschweißten Landmann ruhte.
Eupator – dies mag sein Name indessen sein – war durch alle Stufen der Ehre bis zu der nächsten an seinem Fürsten gestiegen, und wer ihn ohne Neid beurteilte, gestund, daß er keine einzige betreten, ohne daß er sie zu betreten verdiente, und daß er sich bei seinem Aufsteigen auf keine andre Mittel als auf seine Talente und sein Verdienst gestützt habe. Seine Einsichten waren selbst nach dem Geständnisse seiner Feinde groß, weitläuftig, sein Verstand durchdringend, schnell, feurig, seine Geschäftigkeit unermüdend, und wer ihm alles absprach, ließ ihm doch diese Vorzüge; aber eben aus diesen glänzenden Talenten entstund eine gewisse Reformationssucht, ohne welche seine Einsichten vermutlich noch gemeinnütziger gewesen wären und seine Neider keine Gelegenheit bekommen hätten, seine besten Absichten anzuschwärzen und ihm sein Leben auf die unseligste Weise zu verbittern. Ein Verstand wie der seinige entdeckt mit einem mikroskopischen Blicke große Flecken, wo gemeine Augen kaum einen Punkt wahrnehmen, und eine Lebhaftigkeit wie die seinige konnte nicht anders als eilen, diesen Flecken wegzuwischen; vielleicht vergrößerte ihm seine Phantasie bisweilen die Fehler an dem Uhrwerke des Staates; vielleicht wollte er ihm aus der Neigung gewisser vortrefflichen Köpfe zur genauen Regelmäßigkeit einen zu abgemeßnen, nach einem bestimmten Plane ausgekünstelten Gang geben, ohne in dem Feuer seiner Meditation und seiner Arbeit zu überlegen, daß die Regierung der ganzen Welt und die Regierung eines Staates, insofern sie mit jener vom Zufalle abhängt, einen großen weitumfangenden Plan zum Grunde haben, der nicht in einer Karte verzeichnet oder verbessert werden kann, und daß sich noch viel weniger ein Riß nach dem verjüngten Maßstabe wie von einem Gebäude machen läßt, dessen Ausführung so leicht wäre als dem Maurer und Zimmermanne der Grundriß des Baumeisters. Demungeachtet wollte er dies tun, der ganze Staat sollte auf sein und seiner Nachfolger Kommando so maschinenmäßig und in ordentlichem Tempo manövrieren wie ein Regiment Soldaten; am Ende sah er zu seinem großen Verdrusse, daß entweder sein Plan übel angelegt oder seine Maßregeln übel gewählt waren; denn statt der gesuchten Regelmäßigkeit entstund die größte Unordnung; statt, seiner Absicht gemäß, zu einem Zwecke zu wirken, ging alles widereinander; der Staat wurde ein Chaos. Freilich war ein Teil dieses schlimmen Erfolgs der Ungeschicklichkeit und dem bösen Willen derjenigen zur Last zu legen, die da nach seiner Anweisung arbeiten sollten, wo seine Kräfte nicht hinreichten; aber man befand für gut, die ganze Schuld seinen Schultern aufzulegen, man machte ihn verhaßt, und man konnte es mit einem guten Anscheine; er verließ aus Ärger und Überdruß seinen Posten und zog sich als ein übelbelohnter Menschenfreund mit dem völligen Bewußtsein seiner redlichen Absichten auf seine Güter zurück. Die allgemeine Stimme war wider ihn, und anstatt die Fehler seiner Administration aus der wahren Ursache zu tadeln, maß man sie nicht einer zu feurigen, höchstens unüberlegenden Tätigkeit, sondern einem bösen Herzen zu; doch davon sprach ihn der Umstand völlig los – er war durch alle seine Anstalten und Anordnungen nicht um einen Apfelstiel reicher geworden, und böse ist gewiß niemand, als wenn er Nutzen davon hat.
Nach dieser Einleitung wird es niemand