Obwohl diese unbekannte Kapelle ziemlich klein war, so konnte man doch die Gegenstände darin noch nicht deutlich unterscheiden, und was Consuelo am meisten auffiel, war eine weißliche Bildsäule dem Altar gegenüber in jener steifen, ernsten Haltung kniend, welche ehedem bei Statuen, die zur Verzierung der Gräber dienten, in Gebrauch war. Sie glaubte sich nun an einer, den Überresten und dem Andenken verehrter Ahnen geweihten Stätte, und da sie seit ihrem Aufenthalt in Böhmen ein wenig furchtsam und abergläubisch geworden war, so kürzte sie ihr Gebet ab, und stand auf, um hinauszugehen.
Aber in dem Augenblicke, wo sie noch einen letzten, scheuen Blick auf die zehn Schritte von ihr kniende Figur warf, sah sie die Bildsäule deutlich ihre gefalteten steinernen Hände auseinander tun und langsam ein großes Kreuz machen, während sie einen tiefen Seufzer ausstieß.
Consuelo war nahe daran, rücklings niederzustürzen, und dennoch vermochte sie nicht, ihre verstörten Augen von der furchtbaren Bildsäule abzuwenden. Es musste sie in dem Glauben, eine steinerne Figur zu sehen, bestärken, dass diese nicht den Schreckensschrei zu hören schien, den Consuelo ausstieß, und ihre beiden großen, weißen Hände wieder zusammenlegte, ohne den geringsten Zusammenhang mit der Außenwelt zu verraten.
5.
Wenn die erfinderische und fruchtbare Anna Radcliffe sich an der Stelle des ehrlichen und unbeholfenen Erzählers dieser sehr wahrhaften Geschichte befunden hätte, so würde sie sich eine so schöne Gelegenheit nicht haben entgehen lassen, verehrte Leserin! Sie ein halbes Dutzend herrlicher und spannender Bände hindurch unter Corridoren, Falltüren, Wendeltreppen, finstern Gängen und unterirdischen Gewölben umherzuführen, um Ihnen erst im siebten Bande den Schlüssel zu allen Geheimnissen ihres kunstreichen Werkes zu überliefern.
Aber die Leserin, deren Unterhaltung unsere Aufgabe ist, würde als ein starker Geist vielleicht den unschuldigen Kunstgriff des Romanschreibers in unsern Tagen nicht so gut aufnehmen. Und da es ohnehin sehr schwer sein würde, ihr das Geringste aufzuheften, so wollen wir ihr geschwind, so geschwind als möglich, das Wort unserer ganzen Rätsel entdecken. Und wollen, um gleich zwei mit einem Schlage abzutun, bekennen, dass Consuelo, nachdem sie einige Augenblicke wieder bei kaltem Blute war, erstlich in der beseelten Statue vor ihren Augen nichts anderes als den alten Grafen Christian erkannte, der sein Morgengebet in seinem Oratorium in Gedanken hersagte, und zweitens in jenem Seufzer der Zerknirschung, der ihm unbewusst entfuhr, wie alten Leuten oft, das nämliche dämonische Seufzen, welches eines Abends ihr Ohr traf, als sie eben den Bittgesang an »Unsere liebe Frau zum Trost« gesungen hatte.
Consuelo schämte sich ein wenig ihres Schauders und blieb, aus Ehrfurcht und um nicht ein so brünstiges Gebet zu stören, an ihre Stelle gebannt. Nichts konnte erhebender und rührender sein als der Anblick dieses auf den Steinen knienden Greises, der sein Herz am frühen Morgen Gott darbrachte, so ganz hingegossen in eine Art himmlischer Verzückung, dass seine Sinne jedem Eindruck der sichtbaren Welt verschlossen schienen. Seine edlen Züge verrieten keine schmerzliche Spannung. Ein Luftzug, welcher durch die Tür kam, die Consuelo offen gelassen hatte, spielte um seinen Nacken in einem Halbkranz von Silberlocken, und feine hohe, bis zum Scheitel nackte Stirn glänzte wie vom Alter vergilbter Marmor. In einem weißwollenen altmodischen Schlafrock, der fast wie eine Mönchskutte aussah und um seine mageren Glieder große steife und schwere Falten bildete, glich er vollkommen einer Grabstatue, und als er seine unbewegliche Haltung wieder angenommen hatte, musste Consuelo zweimal hinsehen, um nicht in ihre erste Täuschung zurückzufallen.
Nachdem sie ihn eine Zeit lang aufmerksam betrachtet hatte, indem sie ihre Stellung mehr zur Seite nahm, um ihn besser sehen zu können, fragte sie sich, gleichsam unwillkürlich, mitten in ihrer Bewunderung und Rührung, ob ein Gebet der Art, wie es dieser Greis zu Gott emporschickte, wohl zur Genesung seines unglücklichen Sohnes helfen könnte, ob eine so duldsam den überlieferten Glaubenssätzen und den starren Schlüssen des Schicksals unterworfene Seele wohl je die Glut, den Scharfblick und die Kraft besessen haben mochte, welche Albert in seinem Vater hätte finden müssen, um sich von ihm leiten zu lassen.
Auch Albert hatte einen mystischen Sinn; auch er hatte ein frommes und beschauliches Leben geführt; aber nach allem, was Amalie erzählt, nach allem, was Consuelo seit ihrem kurzen Aufenthalt im Schlosse mit eigenen Augen gesehen hatte, war Albert nie dem Ratgeber, Führer und Freund begegnet, der seine Einbildungskraft hätte leiten, die Heftigkeit seiner Gefühle dämpfen und den ungezähmten Brand seines Tugendeifers besänftigen können.
Sie sah ein, dass er sich vereinsamt fühlen und wie einen Fremdling sich betrachten musste, inmitten dieser Familie, die ihm stets nur eigensinnig widerstritt oder schweigend ihn beklagte als einen Ketzer oder Narren; sie fühlte es an sich selbst, an der Art Ungeduld, die ihr dies unempfindliche, endlose, an den Himmel gerichtete Gebet erregte, das ihm allein die Sorge aufzubürden schien; die man selber hätte übernehmen müssen, den Flüchtling zu entdecken, zu ihm zu eilen, ihn zu überreden und zurückzuführen.
Denn welch eine starke Anwandlung von Verzweiflung, welch eine unsägliche Verwirrung der Seele musste es nicht sein, die einen Jüngling von so liebevollem, gutem Herzen aus der Mitte seiner Angehörigen reißen konnte, um ihn in eine völlige Selbstvergessenheit zu stürzen und ihm sogar die Ahnung der Besorgnisse und Qualen, die er dem teuersten Wesen bereitete, zu rauben.
Dass man es sich zum Gesetz gemacht hatte, ihm nie zu widersprechen und in tödlicher Unruhe Ruhe zu heucheln, dünkte dem festen und graden Sinne Consuelo’s eine strafbare Nachlässigkeit, oder ein grober Irrtum. Es lag darin die Art Dünkel und Selbstsucht, die Leuten von religiöser Beschränktheit eigen ist, Leuten, welche die Binde der Intoleranz sich geduldig um ihre Augen legen lassen und an einen einzigen, genau von Priesterhand vorgezeichneten Weg zum Himmel glauben.
Guter Gott! sagte Consuelo in ihrem Herzen betend; wäre