»Herrgott, haben Sie in letzter Zeit keine Zeitung aufgeschlagen, Alex, oder Nachrichten geschaut?«
»Ich besitze keinen Fernseher, und im Augenblick beschränkt sich mein Lesestoff auf die Geschichte zweier Typen: Huck Finn und Jim, ein schwarzer Sklave. Allerdings habe ich gehört, erschreckend viele Kritiker von Präsident Wladimir Rostow – Journalisten – würden umgelegt. Das ist aber alles, schätze ich.«
Sir David erhob sich, verschränkte die Hände hinterm Rücken und begann, am Kamin hin und her zu gehen wie auf dem Hüttendeck eines Schiffs, während fern am Horizont gegnerische Masten auftauchten.
»Diese politischen Morde in den letzten Wochen sind nur die Spitze des Eisbergs. Wir haben unseren guten Draht zu den Russen mittlerweile verloren. Im vergangenen Sommer unterzeichnete ihre Regierung einen milliardenschweren Rüstungsvertrag mit Hugo Chavez, dem charmanten Venezolaner, mit dem Sie neulich aneinandergerieten. Er ließ sich nicht lange bitten und unterbreitete öffentlich, sein Land werde neue Waffen einsetzen, um einen unserer Flugzeugträger zu versenken – die HMS Invincible, die momentan in der Karibik liegt. Vor acht Tagen lieferte Russland dem Iran technisch hochentwickelte Luftabwehrraketen vom Typ SA-15. Wir wissen auch warum: um die Atomstandorte des Iran zu verteidigen, eine klare Bedrohung der gegenwärtigen Machtverhältnisse.«
»Das Neue Russland verhält sich mehr oder weniger genauso wie das Alte.«
»Als sei das nicht schon genug, geben die Sowj– … Verzeihung, die Russen, Milliarden für den Bau eines Reaktors für das Kraftwerk Buschehr aus. Daraufhin wird das Land genug waffenfähiges Plutonium für mindestens 60 Bomben produzieren.«
»Und es gehört nicht zu unseren Freunden.«
»Was wissen Sie über die Graue Eminenz und die Zwölf.«
»Wen? Welche Graue Eminenz?«
»So heißt Rostow Kreml-intern. Sagt einiges über sein Ansehen aus.«
»Ich weiß nicht sonderlich viel, Sir. Er arbeitete früher für den KGB. Schweigsamer Typ, kalt wie Stein, charakterlich völlig unberechenbar.«
»Falsch. Er ist ein leidenschaftlicher, emotionaler Mensch, der seine wahren Gefühle ausgezeichnet verbergen kann.«
»Wäre gut beim Pokern.«
»Zufälligerweise liebt er das Spiel.«
»Hoffentlich verlangen Sie jetzt nicht von mir, dass ich ihn zu ein paar Partien Five Card Stud überrede. Ich hab's nicht unbedingt mit Kartenspielen, Sir.«
C lächelte kurz.
»Wladimir Rostow ist weder Demokrat noch ein Zar wie Alexander II, kein schizophrener Paranoiker vom Schlage des pockennarbigen Zwerges Stalin und auch nicht religiös nationalistisch wie Dostojewski. Er hat jedoch etwa von ihnen allen, Alex, und genau dies fordern die Russen aktuell von einer Führungskraft. Man sieht ihn als nasche an, obwohl er für gewöhnlich Cola light trinkt, keinen Wodka.«
»Nasche?«
»Russisch für ›unser‹. Das Wort steht symbolisch dafür, wie stolz die Bürger neuerdings auf alles sind, was aus ihrem Land stammt. Es ist eine Reaktion darauf, dass sich die Menschen während der Neunziger in erniedrigender Weise sklavisch am westlichen Kulturkreis orientierten – schuldbewusst verlegen wurden, wenn sie in einem McDonald's beim Herunterschlingen eines Big Mac gesehen wurden, und Pepsi schlürften, statt wie echte Russen Wodka zu saufen, oder sich die Dixie Chicks im Radio anhörten.«
»Ich kann mir aber auch vorstellen, dass sie es gutheißen, wenn ihr ehrbares Staatsoberhaupt nicht betrunken durch den Kreml torkelnd Samowars umstößt.«
C lächelte wieder. »Ehrlich gesagt vermisse ich Boris Jelzin. Hier, das ist unser gekürztes Dossier über Rostow. Lesen Sie es bei Gelegenheit, aber ich gebe Ihnen eine kurze Zusammenfassung als Grundlage für den weiteren Verlauf unseres Gesprächs: Wladimir Wladimirowitsch Rostow – im Volksmund auch Wolodja – wurde 1935 als Sohn armer Eltern aus der Arbeiterklasse geboren. Beide, Vater und Mutter, hatten die 90 Tage von Hitlers grausamer Belagerung Leningrads überlebt. Seine zwei Brüder waren von den Nazis getötet worden, wohingegen sein Vater bei der Verteidigung der Stadt schwere Wunden erlitten hatte. Dies war sein Hauptantrieb dafür, eine Tätigkeit beim Geheimdienst aufzunehmen.«
»Er hasst also die Deutschen. Das könnte nützlich sein.«
Trulove nickte zufrieden in der Gewissheit, dass Hawke bereits vorausdachte. »Mit fünfzehn«, fuhr er fort, »sah Rostow den Film Schild und Schwert, der die Taten eines sowjetischen Spions in Deutschland während des Krieges verherrlichte. Er versuchte im Alter von 16 Jahren, beim KGB unterzukommen, indem er einfach in die örtliche Zentrale marschierte und darum bat, sich zum Dienst anmelden zu dürfen. Er wurde – logischerweise – abgewiesen, und zwar mit dem Rat, einen Universitätsabschluss zu machen, vorzugsweise in Jura oder Sprachen. Das tat er auch. Nach seinem Studium an der staatlichen Hochschule in Leningrad nahm ihn der KGB auf.«
»Er verklärt Spionage romantisch«, bemerkte Hawke und kratzte sich am Kinn.
»Was?«
»Ich habe den Film, den Sie nannten, auch gesehen. Er bietet eine sehr romantische Darstellung des furchtlosen Sowjet-Doppelagenten, der auf eigene Faust im Dritten Reich umgeht und Geheimdokumente stiehlt, um Militäroperationen der Deutschen zu sabotieren. Mit anderen Worten: Er schafft im Alleingang, was ganze Armeen nicht geschafft haben.«
C trank einen Schluck Whiskey.
»Ich muss fragen, Alex: Finden Sie sie auch romantisch? Spionage, meine ich. Die Zauberkunst des Handstreichs.«
»Nicht im Geringsten.«
So wie C ihn ansah, schien er diese Antwort gutzuheißen. Er beschrieb den Präsidenten weiter: »Unser Wolodja war groß und schlank, wobei er zerbrechlich wirkte und mit zehn Jahren oft den Schlägertypen aus seiner Wohngegend zum Opfer fiel. Irgendwann machte er es sich zur Lebensaufgabe, Sambo zu lernen, eine sowjetische Mischung aus Judo und Ringkampf. Damit meinte er es todernst, was übrigens heute nicht anders ist. Er erhielt sowohl in Sambo als auch Judo schwarze Gürtel und gelangte beinahe in die Olympiaaufstellung der Union. Ein Jahr nach seinem Abschluss in Internationalem Recht und Beitritt in den KGB wurde er Judo-Meister von Leningrad. Ich erwähne das, weil ich finde, dass es Aufschluss über seine tatsächliche Persönlichkeit gibt.«
»Und?«
»Der Trainer, der ihm in seiner Jugend Judo beibrachte, lebt noch. Einer unserer Männer in Sankt Petersburg nahm ihn sich vor einiger Zeit zur Brust. Lassen Sie mich Ihnen ein paar Auszüge seines Berichts vorlesen: Wolodja war gleichstark im Werfen in beide Richtungen, links und rechts. Seine Gegner konnten nie absehen, wenn sie mit einem Wurf von der einen Seite rechneten, dass er es von der anderen versuchte. Ihn zu schlagen war relativ schwer, weil er ständig Kniffe anwandte.«
»Jetzt verstehe ich, worauf Sie hinauswollen.«
»Rostows angeborener Hang, sich nicht in die Karten schauen zu lassen, passte perfekt zu seiner Judo-Vorliebe. Er konnte stets die Züge seiner Gegner abschätzen und zugleich seine eigenen Absichten verbergen.«
»Für ihn ist es kein Sport, sondern eine Philosophie«, schlussfolgerte Hawke.
»Exakt.«
»Faszinierend, Sir. Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, wohin das alles führen wird.«
»Nach Moskau, Alex.«
»Und sobald ich dort bin?«
»Morgen sind Sie schlauer. Ich will Ihnen fürs Erste erklären, weshalb ich in Bermuda bin. Ich möchte eine neue MI6-Abteilung für streng geheime Missionen aufbauen. Mir fiel bisher kein besserer Name dafür ein als Rotes Banner. Ihr einziger Daseinszweck wird in vehementer Spionageabwehr gegen die wiederauferstanden russischen Tschekisten bestehen.«
»Tschekisten?«
»Die sogenannte Tscheka war der bolschewistische Vorläufer des KGB. Das Wort kürzte auf Russisch den Begriff Außerordentliche