Die Wellen waren riesig, momentan 30 Fuß und höher, Tendenz steigend. Der Wind wehte mit mehr als 50 Knoten von Nordosten her, und die Nadel des Barometers – aktuell zeigte es 29,5 an – sackte weiter ab.
Die Piraten an Bord, die normalerweise mit Langleinen fischten, fingen dieser Tage im Golf mit Ringwaden Alaska-Seelachs. Der Kapitän wusste, dass er innerhalb der 200-Meilen-Grenze wilderte, welche die USA wegen Überfischung festgelegt hatte, doch dies war im Augenblick sein kleinstes Problem. Der plötzliche Wetterumschwung hatte ihn kalt erwischt.
Der Kutter von Captain Noboru Sakashita – so sein vollständiger Name – gehörte dem japanischen Fischereigroßkonzern Nippon Suisan und hatte sich bereits in unruhigen Gewässern bewährt. Tatsächlich lautete die Maxime des Unternehmens, seinen Fuhrpark bis an die Grenzen der Belastbarkeit zu pushen, so man es mit einem Anglizismus ausdrücken wollte.
Der Chef von Noborus Betrieb war ein Geisteskranker, der sich Taifun-Tommy Kurasawa nannte. Seinen Untergebenen erlegte er eine Regel auf: Tut, was immer erforderlich ist, um eure Laderäume zu füllen. Seine Flotte bestand ohne Ausnahme aus »Piraten«. Die Kutter trugen keine Kennzeichen, um uneingeschränkt fischen zu können. Alle Kapitäne verwendeten sogenannte Schattenflaggen, damit die Identität der Schiffsbesitzer nicht herauskam. Solche Flaggen wurden in vielen Staaten gegen Geld angeboten.
Taifun-Tommy hasste die Amerikaner, die Russen aber noch mehr. Die feuerten nämlich zuerst und stellten danach Fragen.
Erst ein halbes Jahr zuvor war Noboru unter seiner Schattenflagge von einem russischen Grenzpatrouillenschiff angegriffen worden. Der japanische Skipper hatte auf Geheiß seines Arbeitgebers vor der Küste der Insel Kaigarajima gefischt, die in einem umstrittenen, von Russland kontrollierten Gebiet im Norden lag. Dort im Kurilen-Archipel war es zum Beschuss gekommen.
Als Noboru – wiederum auf Befehl – den zum Fischen freigegebenen Seeraum verlassen hatte, waren russische Leuchtraketen emporgestiegen, um ihn aufzuhalten. Er war langsamer weitergefahren und mit der Zentrale von Nippon Suisan in Verbindung getreten, die ihm weitere Anweisungen gegeben hatte. Unterdessen hatten die Russen bewaffnete Männer in Schlauchbooten zu Wasser gelassen, die den Kutter entern sollten. Daraufhin war er seinen Befehlen nicht mehr gefolgt, sondern zur Flucht übergegangen. Die Grenzpatrouille hatte das Feuer mit Maschinengewehren eröffnet.
Drei Mitglieder von Noborus Crew waren sofort getötet worden. Drei weitere, die sich Kugeln eingefangen hatten, waren ins Meer gestürzt und in Gefangenschaft der Russen geraten. Diese behaupteten später, der illegale japanische Kutter habe das Patrouillenschiff gerammt und wiederholte Aufforderungen zum Anhalten missachtet. Greenpeace-Demonstranten waren dem Kapitän außerhalb des Gerichtshofs Tag für Tag erbarmungslos gefolgt.
Noboru durfte sich glücklich schätzen, dass er weder seinen Gewerbeschein verloren hatte noch ins Gefängnis gewandert war.
»Senchō!«, brüllte der Funker, um den Wind zu übertönen. »Wir haben eine Seenotfunkbake entdeckt. Wiederhole: SOS-Signal. Ganz in der Nähe, Senchō.«
Noboru ließ vom Ruder ab und streckte eine Hand aus, um sich sein Fernglas reichen zu lassen.
»Wie weit ist sie entfernt?«
»Eine halbe Meile östlich unseres Steuerbordbugs, Senchō. Sie dürften ihn bald sehen.«
Der Kapitän verharrte am Fenster und ließ den Blick am durch die Scheibe verschwommenen Horizont entlangschweifen, soweit es das bewegte Meer zuließ. Die besagte Bake gab die exakte Position in Not geratener Seeleute mithilfe eines fünf Watt starken Funksenders und GPS an. Noboru störte sich daran, dass keine Funknachricht bezüglich eines gekenterten Schiffs eingegangen war, bevor sie das Signal der Bake empfangen hatten. Folglich musste der Kahn, zu dem sie gehörte, in Windeseile abgesoffen sein.
Eine Minute später sah er ein Rettungsboot vom Kamm einer Riesenwelle hinabgleiten. Es sah aus wie ein kleiner roter Pilz, der im sturmumtosten Wasser auf und nieder ging. Von der Größe her konnte es nur eine Zweipersonen-Rettungsinsel für den küstennahen Gebrauch sein, selbstaufrichtend mit leuchtend roter Plane, die es leicht auffindbar machte und die Insassen vor Unterkühlung schützte. Vermutlich stammte sie von einer kleinen Jacht, nicht von einem Handelsschiff. Dies könnte auch erklären, warum die Besatzung, bevor sie von Bord gegangen war, keinen Hilferuf gefunkt hatte.
Jachtbesitzer neigten bei Schiffbruch zur Panik.
»Ein Drittel Kraft zurück«, ordnete der Kapitän an.
Der Großkutter, der gerade noch so viel Schub besaß, dass er den hohen Wellen trotzen konnte, wurde langsamer, während sich die Crew bereitmachte, die Rettungsinsel zu bergen.
Die beiden Russen auf dem geschlossenen Rundboot waren kurz davor, sich gegenseitig an die Kehle zu springen. Wären sie nicht furchtbar seekrank gewesen, hätten sie es eventuell getan. Der Sturm schüttelte sie durch wie zwei Würfel in einem Spielbecher.
Dass es nach Erbrochenem stank, stachelte ihre extreme Wut aufeinander weiter an.
»Was soll dieser beschissene Sturm?«, schrie Paddy Strelnikow seinem Begleiter zu. »Ich bin doch kein freiwilliger Katastrophenhelfer oder so!«
»Glaubst du etwa, mir geht es anders?«, erwiderte Leonid Kapitsa. Er war ein Exsoldat der Handelsmarine, ebenfalls aus Russland emigriert, vierschrötig und an die 40 Jahre alt – wahrscheinlich KGB-Agent oder Geheimpolizist, aber auf jeden Fall nicht ganz sauber, wie Paddy meinte. Starke Muskeln, schwacher Geist und nicht die Sorte Mensch, den man um sich haben wollte, wenn sich das eigene Leben rasant dem Ende zuneigte. Der Kerl sprach grauenhaft schlechtes Englisch, weshalb sie einander auf Russisch beschimpften. Zu seinen besten Zeiten hatte der KGB Auslandsagenten in Fremdsprachen unterrichtet. Jetzt offensichtlich nicht mehr.
»Als sie uns ins Wasser gelassen haben, herrschte vollkommene Flaute. Warum sagte uns niemand, dass es so stürmisch wird?«, rief Paddy heiser.
»Der Sturm war auf einmal da. Ich weiß nicht. Vielleicht haben sie nichts kommen sehen.«
»Verdammte Scheiße. Diese dicken Brummer sind mit Wetterradar und allen Schikanen ausgestattet. Demnach wussten sie, was kam. Ich sage, sie haben in Kauf genommen, dass wir …«
»Sie versprachen, wir bräuchten nicht länger als eine Stunde hier draußen zu treiben, bevor jemand das Signal auffangen und uns auflesen würde. Jetzt sind es schon drei Stunden, und über diesen Hurrikan ist kein Sterbenswort gefallen.«
»Du hättest die Bake auch einschalten sollen, sobald die Jacht außer Sicht war.«
»Schon klar, aber ich musste ja die ganze Zeit kotzen und dachte nicht mehr daran.«
»Also, du bist doch derjenige, der mal bei der Handelsmarine gedient hat. Warum wirst du dann seekrank? Du solltest wissen, wie man sich auf offener See verhält. Das war der einzige Grund für mich, dich mitzunehmen.«
»Warte – ich hör was. Du auch?«
Paddy hatte es auch bemerkt: Stimmen auf Japanisch, gedämpftes Geschrei irgendwo über ihnen, aber sehr nah. Der Wind heulte noch, doch die Rettungsinsel wackelte und schlingerte plötzlich nicht mehr so heftig. Es fühlte sich an, als ob sie senkrecht aus dem Meer gehoben würde. Jawohl, er hörte die Mechanik einer Winde knirschen.
»Endlich«, seufzte Paddy. Er wollte sein Gesicht abwischen, schmierte sich dabei aber etwas von dem Glibber in die Augen und machte alles nur noch schlimmer.
»Ich glaub, mir kommt's wieder hoch«, stöhnte Kapitsa. Und es kam hoch.
»Ach scheiße«, fluchte Paddy und verrenkte sich, um dem stoßartigen Schwall auszuweichen, der sich in seine Richtung ergoss.