»Hey, du Spastiker. Genau, dich meine ich, Lulatsch! Klasse gemacht, Mann, du siehst da draußen aus wie Wayne Gretzkys behinderter Bruder!«
Paddy lachte und schaute auf seine Uhr. Um sechs hatte die Weihnachtsfeier im Büro begonnen, und jetzt war es schon Viertel nach. Nach seinem langen Flug aus Fairbanks im beschissenen Alaska hatte er sich unverzüglich auf seinem Zimmer im Waldorf hingelegt und ein paar Stunden geschlafen. Der Rezeptionist war angehalten worden, ihn um 16:30 Uhr zu wecken.
Er hatte bei P.J. Clarke's vorbeigeschaut und ein paar Mineralwasser getrunken, dabei jedoch die Zeit vergessen. Dennoch war er gespannt auf die Feier. Sie sollte die erste offizielle Veranstaltung im neuen Sitz des Unternehmens oben im Empire State Building sein. Man erzählte sich, Gladys Knight gebe ein Privatkonzert, aber das war wahrscheinlich nur Geschwätz.
Paddy wusste nicht genau, wann der Big Boss bei dieser Sause aufkreuzen würde, aber verpassen wollte er ihn keinesfalls. Nur wenige Angestellte bekamen je die Gelegenheit, ihn persönlich zu sehen – den großen Macher, den Krösus, das hohe Tier, den Mann hinterm Vorhang. Doch, doch, der bevorstehende Abend konnte nur ein ganz besonderer werden.
Strelnikow tat gut daran, sich nun zu beeilen. Er wandte sich von den Schlittschuhläufern ab und ging schnell über die hübsch dekorierte Einkaufsmeile nach Osten in Richtung Fifth Avenue.
Nachdem er die Fifth rechter Hand betreten hatte, machte er sich auf den Weg nach Süden zur 34. Straße. Das Gedränge war beispiellos, vor allem die Schlange vor den Schaufenstern des Luxusladens Saks. Weiter unten auf seiner Route gab es auch irgendwelchen Rummel, dort standen Riesenscheinwerfer, die senkrecht in den Himmel strahlten. Man sah den Schnee in ihren Kegeln rieseln, die sich hin und her bewegten, wobei sie die dunklen Unterseiten der niedrigen Wolken erhellten und über die Fassaden hoch oben an den Wolkenkratzern huschten, die das Straßenbild seiner Kindheitsträume prägten.
Er brauchte ganze zehn Minuten bis zum Empire State Building. Die Scheinwerfer waren auf Tiefladern direkt vor dem Haupteingang montiert und auf den Turm gerichtet. Dessen Spitze erstrahlte in prächtigen Farben. So wie sich die Lichtstrahlen der Scheinwerfer am Gebäude überkreuzten, erinnerte es ihn an eine Filmgala oder dergleichen. Außerdem standen da alle möglichen Kastenwagen von Fernsehsendern mit fetten Satellitenantennen. Es musste sich zwangsläufig um etwas Aufsehenerregendes handeln.
Als Paddy das dreistöckige Foyer betrat, empfand er etwas Stolz. Immerhin war dies sein Büro … sozusagen.
Er hatte es weit gebracht als Kind der Brooklyn-Docks, wo er nur einer von vielen stiernackigen, anmaßenden Hafenarbeitern gewesen war. Jetzt spielte er an vorderster Front in einer internationalen Organisation mit, die eine pompöse Zentrale in einem der berühmtesten Gebäude der Welt unterhielt. Seit dem 11. September 2001 war es wieder das höchste Bauwerk in New York.
Er schaute sich im Foyer um – seinem Foyer – und weidete sich an der Innenarchitektur. Art Déco nannte man den Stil, wenn er sich recht entsann. Seines Erachtens sah es gut aus. Prunkvoll, aber im traditionellen Sinn. Da er noch nie in den Firmenbüros ganz oben gewesen war, trat er an die Marmortheke des Informationsschalters und sprach die sympathische Empfangsdame an, die Jüdin war und aussah, als ob sie zeit ihres Lebens dort stehen würde. ›MURIEL ESB‹ stand auf ihrem Namensschild. Esb? So hießen Juden seines Wissens nicht, doch dann wurde ihm bewusst, dass es sich vielleicht um die Abkürzung fürs Gebäude handelte. Musste wohl so sein.
»Willkommen im Empire State Building. Womit kann ich dienen?«
»Wie geht es Ihnen, Muriel?«, entgegnete Paddy, während er seinen Angestelltenausweis vorzeigte. »Wo geht's denn zur Weihnachtsfeier von TSAR?«
»Oh! Gehören Sie zu den glücklichen Gästen, Mr. Strelnikow? Das wird sehenswert, vor allem von dort oben, wo Sie stehen werden.«
»Sehenswert? Meinen Sie Gladys Knight?« Ihm war die Sängerin zwar scheißegal, aber immerhin war bald Weihnachten, also passte man sich besser der vorherrschenden Stimmung an.
Muriel lächelte. »Haben Sie sich nicht über das Lichtermeer draußen gewundert? Und über die Kameras? Sie sollten wissen, dass die nicht auf den Weihnachtsmann warten.«
»Ach nein? Worauf denn sonst?«
»Ihren prominenten Arbeitgeber! Er soll um 19 Uhr eintreffen. Das dauert noch eine halbe Stunde, also beeilen Sie sich lieber und fahren Sie hoch.«
»Was hat er vor, kommt er in einem Rentierschlitten geflogen oder was?«
»Gut möglich«, antwortete sie, woraufhin beide lachten. Schließlich fragte er noch einmal nach dem Weg.
»Ihr Cocktail-Empfang findet im obersten Stockwerk statt – 102, wo eine der Aussichtsplattformen war. Dass sie momentan geschlossen ist, finden viele Leute schade, wie Sie sich vorstellen können, Mr. Strelnikow. Die im 86. Stock darf man ja noch betreten, aber die darüber war deutlich besser.«
»Tja, was will man machen? Die Zeiten ändern sich eben. Alles Gute für Sie, Muriel – und fröhliche Weihnachten Ihnen.«
Das Unternehmen hatte zwei Jahre zuvor das gesamte obere Drittel des Turms gekauft, genauer gesagt die Stockwerke 70 bis 102. Satte 100 Millionen waren vonnöten gewesen, um die Räumlichkeiten auseinanderzunehmen und so einzurichten, wie es sich für das nordamerikanische Hauptquartier der Kapitalgesellschaft Technology, Science & Applied Research geziemte.
Die Kurzform TSAR entsprach dem englischen Wort für »Zar«, den höchsten Herrschertitel im Russischen Kaiserreich. Den Großkonzern so zu nennen zeugte einmal mehr vom Humor des Chefs. Eines musste man dem Kerl lassen: Für ein waschechtes Genie, das obendrein zu den zehn reichsten Milliardären der Welt gehörte, hatte er eine Menge Stil. Was Paddy indes am meisten an ihm bewunderte, war die Umsicht, mit der er für sein Personal sorgte. Dies galt für die gesamte Hierarchie bis ganz nach unten zum kleinen Mann. Dort stand auch Strelnikow selbst, wenngleich er sich fragte, ob man ihn wirklich klein nennen konnte. Er lachte über seinen eigenen Scherz.
Als er einen leeren Aufzug betrat, drückte er auf den Expressknopf, um ohne Zwischenstopp in die oberste Etage befördert zu werden. Der Fahrstuhl fuhr hoch wie eine verdammte Rakete, sodass er schon nach wenigen Minuten wieder aussteigen konnte. Nun kam er sich vor wie auf einem anderen Stern.
Das ganze Geschoss war mittlerweile rundum verglast und mit Marmor gefliest. Die Decke bestand wie die Wände nur aus Glas und Stahl, bestimmt 75 Fuß hoch über den Köpfen der Anwesenden, die trinkend und schwatzend herumliefen. Paddy ging zu der Seite, die auf die Fifth Avenue zeigte. Wohin er sich auch wandte: Überall ringsum ragten die Spitzen der Wolkenkratzer Manhattans auf, und darüber zogen die Schneewolken vorbei, beschienen vom Licht der Scheinwerfer unten auf der Straße. Zentral im Raum befand sich ein quadratischer, ebenfalls durchsichtiger Fahrstuhlschacht, der durchs Dach hinauf zu einem Funkturm führte. Danach sah die Konstruktion jedenfalls aus, die sich noch einmal etwa 20 Stockwerke höher befand.
Auf einer überdachten Plattform auf ungefähr mittlerer Höhe bis nach ganz oben herrschte reges Treiben. Strelnikow schlenderte ein wenig hin und her, um zu sehen, was dort los war.
»Gibt sich King Kong heute Abend noch die Ehre?«, fragte er den Barkeeper hinter einer der vielen Theken an den Rändern des Saals. Fast überall standen Gäste an und warteten auf ein Getränk, hier jedoch nicht, aus welchem Grund auch immer.
Der Mann erwiderte lachend: »Könnte man meinen, nicht