J'accuse (Ich klage an). Max Georg Brausewetter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Max Georg Brausewetter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066112615
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mit der Versicherung ungehinderter Fahrt ich anfangs in Kopie wiedergab. Der eine von ihnen war ein Greis, der andere schwer krank; aber doch hielt sie Frankreichs Starrsinn und Unberechenbarkeit als mobilisable Gefangene.

      Und noch eines muß ich gedenken, der in unsere Gruppe aufgenommen wurde. Den darf ich nicht mit drei Worten abspeisen; er bot uns lange Unterhaltungsstoff und war ein Gradmesser für unsere erregten Nerven. Es war an einem Dienstag. Wir schrieben den 9. September. Hinter uns lagen die üblichen Sonntagsbesuche, die meist aus Damen bestanden, welchen wir als „boches“, also als besondere Spezies von Menagerietieren, gezeigt wurden. Der Montag hatte uns mit dem Einfahren der Sister die üblichen Hoffnungen, mit ihrer Ausfahrt die übliche Enttäuschung, der Dienstag den Katzenjammer gebracht. Unsere Stimmung war die denkbar schlechteste und gefährlich für Kombinationen. Noch dazu hatte am Nachmittag einer der Herren tschechischen Geistes, der uns als besonders gewaltiger Redner gepriesen war, eine herzlich öde Rede über den Marienkultus gehalten, kurz, wir waren reif zur Aufnahme einer Sensation. Die ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Sie erschien — das war an und für sich durchaus nichts Besonderes — in Gestalt eines neuen Gefangenen. Aber die Begleitumstände! Die bekannte Treppe hinauf durch das Tor schritt ein Jüngling von etwa 24 Jahren, französische Soldaten — ja, das war es! — trugen ihm Koffer, Matratzen, Kissen und Decken nach; er lohnte sie ab und entließ sie.

      Was das sagen will, versteht nur der, welcher je Sträfling gewesen ist. Ich will darauf nicht weiter eingehen, weil ich vielleicht nicht genug Sachverständige fände, die unser Entsetzen voll würdigten. Wer war der Jüngling, der wie ein verkappter Fürst, von französischen Soldaten bedient, hier einzog, wohin wir noch vor kurzem, begleitet und bedroht von französischen Bajonetten, unser Gepäck im Schweiße unseres Angesichts heraufgeschleppt hatten? Wer war der Knabe, der mit einer, nach unserer heutigen Anschauung, kompletten Schlafzimmereinrichtung hier eintraf? Sein Aussehen war kaum deutsch, eher französisch.

      Während die Besonnenen unter uns sich scheu und vorsichtig zurückhielten, duldeten einige der Jüngeren seine Annäherung. Er sprach fließend Französisch, Deutsch und Spanisch, nannte einen deutschen Namen, „Silberger“; aber das kann schließlich jeder. Die Neugier überwog, und auch wir lauschten schließlich dem krausen Zeug, das der Ankömmling, sich überstürzend, im Anblick der erstaunten gläubigen Gemeinde vortrug. Mir ist nicht alles im Gedächtnis geblieben; aber wenn ich es heute rekapitulieren soll, war es etwa so: Die Russen waren in Eilmärschen bis dicht vor Danzig gelangt (da wohnt mein Bruder), nachdem sie Königsberg (da habe ich viele Onkel und Tanten) in zwei Tagen erledigt hatten, wurden von der russischen Flotte in der Zerstörung Danzigs unterstützt (armer Artur!), die inzwischen wohl schon Faktum geworden sei. Die Deutschen waren vor Paris (also doch!). Stettin wurde beschossen (da wohnt meine Mutter). Der Kurs der Mark war zu 60 für Franken usw. Er, der Träger dieser Nachrichten, war auf irgendeinem Ueberseeschiffe mit Franzosen zusammen gereist, hatte sich für deutschen Deserteur ausgegeben und sei gezwungen worden, die Marseillaise zu singen. Er unterrichtete uns schnell und legendär. Bald ging ein Raunen durch unsere Reihen, hier lauert Verrat! Wer ist der gesprächige Jüngling, und welchen Zweck verfolgt er? Und immer lauter wird die Frage: Gebet acht! — Und man gab acht, und es offenbarte sich immer mehr, was wir längst erwartet: Der Ankömmling, der so fürstlich ausgestattet zu uns kam, der in Marseille allein in einem Hotel gewohnt hatte, war ein von der französischen Regierung für uns bestellter Spitzel! Nun war es heraus und nicht mehr zu bannen. — Die Nervosität trieb wunderliche Blüten, und das mehrte sich, als er sich mir vorstellte, mich fragte, ob ich Arzt sei, und ob ich so freundlich sein wollte, ihn zu untersuchen, da er an einem schlimmen Fuße litte. Ich tat das auch ganz ruhig und stellte eine allgemeine Schlaffheit der Gelenkbänder fest. Damals stieg in mir noch nicht der fürchterliche Verdacht auf wie in den anderen. Bald wurde ich meines Leichtsinns wegen gescholten und schwer gewarnt: Durch die Kantinenwirtin, die es einem andern unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit mitgeteilt hatte, war es herausgekommen, daß die französische Regierung auf einen aktiven deutschen General mit falschem Paß fahnde, und der befände sich in unseren Reihen. Auf zwei fiel der stärkste Verdacht, auf Moritz und mich. Bei Moritz war die Feststellung nicht so einfach. Wenn auch sein Aussehen durchaus dem eines Generals entsprach, so war es doch schwer, ihm Gespräche zu entlocken, die ihn bloßstellten. Bei mir war es schon leichter; ich war nicht so vorsichtig und hatte mich außerdem als Arzt ausgegeben, und es brauchte nur festgestellt zu werden, ob ich wirklich Arzt sei. Daher die Konsultation. So kam etwas Spannendes in die Oede des Alltags, und die scharfen Beobachtungen, die wir dem Jüngling von nun an gönnten, wirkten als Nervenreiz. Ich hielt mich ganz frei von der allgemeinen Spitzelkrankheit, und alle Warnungen, auch die ängstlichsten, prallten ab. Schmidt und ich sahen uns den Herrn im Gegenteil zuerst von der nüchternen, praktischen Seite an und entlockten ihm für die allgemeine Kasse nicht nur reichlichen Beitrag, sondern auch Zigaretten usw., die wir zum allgemeinen Besten verauktionierten. Aber die Gespensterfurcht war nicht mehr zu bannen. Einen Moment ergriff mich selber der Wahn, als ich sah, wie sich der eine Kommissär dem Herrn näherte und ihm zuflüsterte: „Nun, sind Sie gut untergekommen?“ Auf meine Frage an Herrn S. erklärte dieser, daß er den Kommissär von früher her kenne. Das war wohl möglich und einfach. Das Einfachste aber glaubten wir natürlich am wenigsten. So wurde der Arme längere Zeit ängstlich gemieden, bis sich der Bann löste.

      Er hat unsere Gefangenschaft redlich geteilt, und da er durch die Kenntnis der französischen Sprache oft zum Vermittler gewählt wurde, so bot sich ihm auch Gelegenheit, sich den Gefangenen nützlich zu erweisen; und die hat er ergriffen und sich immer unzweideutig auf unsere Seite gestellt, was man leider nicht von allen sagen konnte, die des Französischen mächtig waren.

      Das gute Klima und der Ueberschuß an Gesundheit, den wir alle mitbrachten, verhinderte noch damals das Auftreten von Epidemien, wie sie bald in Frioul und später in besonderer Schärfe in Casabianda uns bedrohten. Immerhin gab es Kranke genug. Dr. Heller und ich teilten uns in die Behandlung. Die französischen Aerzte taten nichts für uns. Von dem einen habe ich schon gesprochen; der andere war ein ganz schneidiger Bursche. Um seine tiefwissenschaftliche Art zu kennzeichnen, will ich kurz von seiner ärztlichen Tätigkeit berichten. Die erste Meinung, welche der Menschenfreund äußerte, war, die Brunnen sollten geschlossen werden. Er hielt den Ausschank von Wasser an die „boches“ durchaus für Luxus. Dann schlug er einem im Vorübergehen die Mütze vom Kopf, sagte einem anderen, welcher um die Bewilligung von Decken für die Gefangenen bat, daß Decken für solche Banditen überflüssig seien. Er fand das Essen als Völlerei und schritt nach solchen Vorbereitungen zur ärztlichen Untersuchung. Wie immer gab es einige Harmlose, die ihn wirklich konsultierten. Den ersten, einen alten Herrn mit Blasenkatarrh, fuhr er an: „Sie sind ein Schwein“; dann ertönte sein Kommando: Die Zunge herausstrecken! Aus dem Befund diagnostizierte er mit tödlicher Sicherheit, daß ein Blasenleiden nicht vorliege. Von nun an nahm er sich nicht so ausgedehnte Zeit zu weiterer Untersuchung. Die Patienten mußten schon mit ausgestreckter Zunge herantreten, und da diese meist reinlich war und keine Zeichen von Ueberfütterung des Magens aufwies, so trieb er schnell seine Opfer davon und strich sie aus den Listen der Kranken. Damals stand noch nicht Gefängnis auf solcher Krankmeldung, wie später; aber verdient hätten sie es. So schlug der Herr im Gebiete der Schnelluntersuchung wohl den äußersten Rekord. Ich sah dem tüchtigen Kollegen von der Galerie aus bewundernd zu, und als ich mich auf einen Augenblick in das Zimmer verfügte und wieder heraustrat, war die Diagnose bei zwölf Kranken gestellt. Zu einigen Krätzekranken sagte er: „Ihr seid Wilhelms Söhne!“ Ich habe unter den französischen Aerzten in unserem Lager die besten und die schlechtesten kennengelernt; auch ein Ungeheuer war unter ihnen, dem ich später noch ganze Kapitel widmen muß und das die französische Regierung gern zu den Geisteskranken geworfen hätte. Als später noch Dr. Vosselmann in unser Lager kam, traten wir zu dritt in die Organisation der Krankenbehandlung ein. Sergeant Bonel hatte uns drei Aerzten das Casimirzimmer eingeräumt und den größeren, etwas dunklen Kuppelraum außerhalb des Gefängnisses als Hospital sowie einen kleinen Schuppen am Meere als Infektionsstation übergeben. Das war sehr dankenswert von unserem braven Sergeanten, und da er uns Aerzten noch laissez-passer ausstellte, die Erlaubnis, uns zu jeder Zeit frei auf der Insel zu bewegen, so wurde unsere Lage recht erträglich. Ich bin in den letzten Besprechungen schon der Zeit vorausgeeilt und wende mich zurück zum Tage neuer Einquartierung.

      Am