J'accuse (Ich klage an). Max Georg Brausewetter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Max Georg Brausewetter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066112615
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Es wurde uns zwar von dem Arzt versichert, das Wasser sei gut, aber wir sind doch recht vorsichtig damit gewesen, besonders, da uns einmal der furchtbare Verdacht aufstieg, der sich glücklicherweise als grundlos herausstellte, die Bedürfnisanstalten des oberen Stockes hätten in ihrem Abfluß auch einen Weg zum Brunnen gefunden. Um aber einer Verunreinigung des Brunnens durch falschen Gebrauch vorzubeugen, wurden strenge Weisungen gegeben, und eine Wache hatte den Wasserausschank nach ärztlicher Verordnung zu überwachen. So entstanden die ersten Gesetze in unserer Republik Château d’If, auf die ich sämtliche Mitgefangene durch Handschlag feierlich verpflichtete.

      Da alles im Leben Geld kostet, auch Reinlichkeit und Ordnung, und da kein Staat ohne Finanzen regiert werden kann, so wurde eine Sammlung veranstaltet, die über 100 Fr. ergab, und Schmidt stieg auf zum Finanzminister. Das Geld hat sich stetig durch neue Spenden vermehrt und ist später sehr segensreich geworden. Die Körperreinlichkeit wurde dadurch ermöglicht, daß das Waschen im Freien und in Gruppen zu sechs Mann eingerichtet wurde. Die Erlaubnis zum Baden im Meere bekamen wir leider damals nicht. Ein anderes Erfordernis trat an uns, die Gedanken aus dem täglich sich mehrenden Elend auf etwas Besseres abzulenken. So begannen wir, uns abends auf der Galerie zu vereinen, sangen zuerst einige Volkslieder und hielten bald auch Vorträge. Einer der eifrigsten Förderer solcher Bestrebungen war Dr. Beyer, der mit seiner klangvollen Stimme uns Loewesche Balladen und Arien oft weihevoll vortrug. Er hat auch später durch seine Predigten und Ansprachen sich große Verdienste um uns erworben, und manch einen, auch mich, verband bald eine herzliche Freundschaft mit ihm, die, so schwerer Leidenszeit entsprungen, hoffentlich desto fester hält. Ich werde den tief sentimentalen Eindruck nicht vergessen, den solche Abende auf uns machten. Es war die Zeit des Vollmondes, und wenn der in das kahle Gemäuer unheimlich strahlte, und wir Gefangenen unter französischen Bajonetten mit halb unterdrückter Stimme heimatliche Lieder sangen, so trieb die Wehmut manch einem von uns die Tränen in die Augen. Ich habe nie in so stimmungsvoller Umgebung Bürgers „Leonore“ und Goethes „Totentanz“ vorgetragen, und eigenartig paßte es auch in die Umgebung, als Schmidt und ich dort die ersten Akte „Faust“ rezitierten. Bei schlechtem Wetter hatten wir den Hintersaal „Eiserne Mark“ für Vorträge und für den Gottesdienst eingerichtet und denken gern der herzlichen Worte, die zu uns, gleichviel welchen Glaubens, von katholischen Geistlichen Sonntags gesprochen wurden.

      Doch auch die Lust an Vorträgen und Unterhaltungen ließ bald nach, als ein Gespenst, zuerst in unseren Reihen kaum merkbar, dann aber mehr und mehr sichtbar, sich eingeschlichen hatte, das wir nie mehr ganz von uns abschütteln sollten, das Gespenst des Kleinmuts, der Verzweiflung. Wie manchen von uns hat es die ganze Zeit der Gefangenschaft so fest umkrallt gehalten, daß er die Folgen bis an sein Ende spüren wird! Gepackt hat es jeden von uns, und jeder von uns hat eine Zeit durchgemacht, da er wie ein Schwerkranker sich von der Gesellschaft ausschloß und den bittersten Gedanken nachgrübelte. Ich weiß von manch einem, und es war durchaus nicht immer ein Weichling, der sich nachts die Decke über den Kopf zog und bitterlich weinte. Das war nicht Schwäche, das war Scham vor sich selber. In Château d’If waren es noch wenige, in Frioul mehrte sich die Zahl, und in Casabianda griff die geistige Ansteckung erschreckend um sich, und in jener Zeit, da wir unsere Kameraden an Dysenterie und Typhus verloren, da die Fluchtversuche mißglückten und auf das härteste bestraft wurden, hatte das Gespenst gewonnenes Spiel. Nur langsam richtete den einen oder den anderen wieder der kategorische Imperativ auf: Du darfst nicht in Feindesland kläglich erliegen! — Daß keiner von uns durch Selbstmord fiel, betrachte ich noch heute als große Genugtuung. Wie nahe hat manch einer von uns vor solcher Lösung gestanden. Was diesen Kleinmut erhöhte, war die ewige Sehnsucht nach Freiheit, die täglich wiederkehrende Hoffnung, sie stünde uns nahe bevor, und die täglich wiederkehrende Enttäuschung. Wer von uns gedenkt nicht der Sistermontage, der festen Hoffnungen, die sich an das montägliche Wiedererscheinen dieses verdammten Fahrzeuges geknüpft hatten. Es war wie eine fixe Idee in uns, die Sister, die uns so heimtückisch ins Gefängnis geführt, müsse uns die Freiheit wiederbringen. Und unsere braven Kommissäre, denen wir trotz ihrer Verlogenheit immer wieder trauten, bestärkten uns hämisch in diesem Glauben. Wie oft mögen sich die Braven ins Fäustchen gelacht haben, wenn sie uns wieder einmal zum Narren gehalten hatten! — Ich darf mich wohl zu denen rechnen, die eigene Energie aufrechterhalten hat, wenngleich ich die Tage und Stunden der Verzweiflung durchmachte, wie jeder von uns, der etwas zu verlieren und etwas zu wünschen hatte. Als die Aussicht, freizukommen, immer weiter entschwand, entschloß ich mich, den Franzosen meine ärztlichen Dienste anzubieten, wenn sie mich in ein Lager schicken wollten, in welchem ich verwundete Deutsche behandeln könnte. Ich war naiv genug, zu glauben, daß mir die Bitte erfüllt werden könnte. Mein Gesuch wurde aber zweimal abgeschlagen und mir bedeutet, daß es ganz aussichtslos sei, wenn ich ein offizielles Gesuch an das Kriegsministerium richten würde. Es wären auch zu viele Bedingungen, die ich absolut stellen mußte, ein Hindernis gewesen. Doch hat meine an Ereignissen so reiche Gefangenschaft auch eine Periode gekannt, die mich offiziell zum Medizinmajor in Vertretung beförderte, die freilich, wie ich später berichten werde, mit traurigem Eklat endete.

      Auch an den Ratsversammlungen, die fast täglich auf der Galerie abgehalten wurden, war es mehr und mehr erkennbar, wie eine gewisse Hast und Nervosität sich vieler bemächtigte. Es wurden Anträge auf Anträge gestellt, bei der französischen Regierung, bei der spanischen und deutschen, bei der amerikanischen Botschaft vorstellig zu werden wegen unserer ungerechten Gefangensetzung, das und das zu fordern für bessere Behandlung usw.; besonders war es wieder das Tribunalzimmer, das die äußerste Linke bildete. Ich war durchaus gegen solche Schritte und mit mir meine Kollegen vom Vorsitz. Noch in späteren Tagen ist mir der Vorwurf gemacht worden, daß ich durch starke Ablehnung solcher Vorschläge vielleicht eine frühere Freilassung verhindert hätte. Die Zeitenfolge hat bewiesen, daß dieser Vorwurf ungerechtfertigt war. Eingaben an alle Regierungen, die etwa tagtäglich gemacht wurden, führten zu nichts, als zu ewigen Enttäuschungen, welche die Nervosität zum Unerträglichen steigerten.

      Mit dem Tribunal schloß ich an einem feierlichen Tage Frieden, es war der 2. September, den wir in diesem Zimmer im kleinen Kreise und so heimlich als möglich feierten. Und doch war diese Feier, so primitiv sie war, von unvergeßlicher Weihe. Ich sprach in kurzen Worten von der Bedeutung dieses Tages und dem wehmütig-zaghaften Gefühl, mit dem wir hinter Schloß und Riegel unserer Helden von damals und unserer Helden von heute gedächten. Dann sprach noch Dr. Beyer herzliche Worte für mich, und es wurden mit leiser Stimme patriotische Lieder gesungen. Erst um 9½ Uhr trennten sich die nächtlichen Schwärmer. Eine Pfirsichbowle, die wohlpräpariert war, hatte wesentlich zur Hebung der Stimmung beigetragen. So seltsam habe ich den 2. September nie begangen.

      Bald darauf begann ein neuer Einzug der Gäste in unsere Burg. Es waren das Offiziere und Mannschaften der „Elsa Köppen“ und einiger anderer Schiffe. Die „Elsa Köppen“ war in Nizza angehalten und ihre Mannschaft gefangengenommen, ehe noch der Krieg ausgebrochen war. Das nahm uns nicht wunder; derlei waren und wurden wir immer wieder von neuem gewöhnt. Es waren 34 Mann, darunter der Kapitän und mehrere Offiziere. Sie waren teilweise scharf zugerichtet und erzählten von ähnlichem Empfang durch die französische Damenwelt, wie er etwa den meisten zuteil geworden ist, und den wir erst später genauer kennenlernen sollten. Wir begrüßten die Herren und räumten ihnen mit Einverständnis des Sergeanten Bonel als vorläufige Unterkunft den Festsaal ein. Die Offiziere wurden in einzelne Zimmer verteilt, der Kapitän William ins Tribunal, der Erste Offizier Heinrich zu uns. Am nächsten Tage gab es Revolution im revolutionären Zimmer: der neue Ankömmling schnarchte so, daß die festesten Mauern der Ruine ins Wanken gerieten. Es gibt Charaktersünden des Menschen, die beim Kriegsgefangenen zur Todsünde werden; dazu gehört das Schnarchen. Der Kapitän selbst verstand die Aufregung der Masse durchaus nicht und erklärte am nächsten Morgen mit Seelenruhe, daß er selten so gut geschlafen habe. Er ließ sich auch später nie durch die Nervosität der anderen aus so gleichmäßiger Ruhe bringen. Uebrigens liegt es mir fern, dem Herrn etwas Böses nachsagen zu wollen; er hat mir im Winter durch einen prachtvollen dicken Wintermantel und Kopfkissen die kalten Nächte erträglich gemacht. Auch wurde gegen etwaiges Weitertragen der Krankheit dem Herrn Kapitän mit drei anderen Herren, die rücksichtslos demselben Laster frönten, ein Extracachot in Château d’If angewiesen, dessen Akustik minderwertig war. Diese 34 reihten sich uns an, und wenn wir 72 Gefangene der Sister als Sisterleute von nun an eine eigene