J'accuse (Ich klage an). Max Georg Brausewetter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Max Georg Brausewetter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066112615
Скачать книгу
glaube ich, nicht übler zumute gewesen, als diesen Nachmittag. Der Major, welcher uns auf dem Schiffe gefangennahm, hatte so freundlich meiner Frau versichert: „Seien Sie ganz unbesorgt, Ihr Herr Gemahl wird es gut haben, gutes Bett, gutes Essen, gerade wie zu Hause.“ Er hatte das so treuherzig versichert, und wir kannten damals die hämische Art unserer Quäler noch nicht. Nun standen mein Freund Moritz und ich vor den öden Mauern der Burgruine, durch deren vergitterte Fensterhöhlen die untergehende Sonne kümmerlichen Weg suchte. Wir sahen erstaunt einander an und unsere blöden Gesichter fragten: „Soll das die standesgemäße Unterkunft für uns bedeuten?“ Gegenüber vom Kastell lag ein Café für Sonntagsbesucher; der Preis für Erfrischungen war noch aufgeschrieben, aber die Wirtschaft war außer Betrieb gesetzt. Senkrecht dazu die Kantine, welche uns ihre Räume heimlich öffnete und uns, die wir den ganzen Tag nichts genossen, etwas Speise und Trank verabreichte. Vergebens spähte unser Auge nach einem kasernenartigen Gebäude, das uns wenigstens gefensterte Räume, die durch Türen zu schließen waren, geboten hätte. Man ließ uns keine Zeit zu solchen nichtswürdigen Betrachtungen. Château d’If öffnete sein Kerkertor, nachdem wir je 2 und 2 Mann mit einer Strohmatratze beladen waren, und schloß sich hinter uns. Wir suchten ermüdet Raum, wo wir ihn fanden, uns zu betten, und die kleinen Schlafgesellen, die wir von nun an nie mehr ganz entbehrten, hätten uns kaum erweckt, wenn nicht ein französischer Offizier diese Aufgabe übernommen hätte, wohl in der löblichen Absicht, uns daran zu gewöhnen, daß wir in Frankreich nicht auf Rosen gebettet seien. Wie einer nächtlichen Vision erinnere ich mich dieses Besuches. Das Geisterzimmer plötzlich blendend hell, durch Fackeln erleuchtet, blitzende Uniformen, grell leuchtende Bajonette, ein kurzer Befehl, vier Hände rissen eine Matratze mit rasender Geschwindigkeit an sich, deren schlaftrunkene Inhaber zu einem kunstvollen Saltomortale gezwungen wurden. Aufschlagen, wie von gebrochenen Leibern, Abmarsch der Sieger, leises Wimmern der Besiegten, tiefe Dunkelheit und Ruhe. — Wir hatten es eben ganz wie zu Hause. — — — Am nächsten Morgen erwachten wir beim ersten Grauen des Tages. Es lag eine bleierne Schwere auf uns, die in tiefem Schweigen Ausdruck fand. Was einer dem anderen mitzuteilen, was er ihn zu fragen hatte, das tat er in geheimnisvoll erwartendem Tone. Ich denke mir, so müssen die Gefangenen in der Bastille miteinander gesprochen haben, und es erinnert mich an die Darstellung von Hanneles Himmelfahrt im Schauspielhause, als beim toten Hannele die Leidtragenden vorüberdefilieren und sich ihre Beobachtungen mit Grabesstimme zuraunen. Die Sonne stieg höher und noch öffneten sich die Kerkertore nicht. So machten wir uns schnellere Bewegung, wie die Engländer auf dem Schiffsdeck, und die Szene wurde lebhafter. Wir konnten durchaus Anspruch darauf machen, mit den Gefangenen damaliger Zeit verglichen zu werden, denn unsere Gesellschaft war recht bunt zusammengesetzt und bestand zum großen Teil aus Geistlichen und Gelehrten. Wir zählten 10 geistliche Herren und 12 des Gelehrtenstandes unter 72. Außerdem Kaufleute, Farmer, gewesene Offiziere usw. Gleiches Leid führt leicht zusammen, und so begannen wir, uns einander zu nähern und die ersten Meinungen über das Schicksal auszutauschen, das uns bevorstand. Da stießen wunderbare Optimisten gegen ebenso gewaltige Pessimisten. Von der Freilassung heute, morgen, ging es sprungweise zum Kriegsgericht, zur Füsillade. Im Grunde konnte jeder recht haben, und das sollten wir später mehr und mehr einsehen, vielleicht gerade der, welcher am wenigsten logisch deduzierte, denn wir waren von heute an Gefangene im großen Frankreich, dem Lande der unbegrenzten Möglichkeiten. Ueber Denken und Erwägen richtet die Metze Fortuna. — Von 5 Uhr morgens bis 10 Uhr ist eine lange Zeit für den, welcher es nicht gewohnt ist, mit der Sonne sich zu erheben, und so schienen die Stunden unendlich langsam zu vergehen.

      Um 10 Uhr begann unser Sträflingsleben. Wir wurden etwa eingekleidet, der Arzt erschien, ein freundlicher, grauer Herr, der nach geruhigem Familienleben und behaglichen Mahlzeiten aussah. Der Uniformrock stand ihm schlecht. Er trat uns mit Worten wohlwollend entgegen, sonst ging er weder im positiven noch im negativen Sinne über den Nullpunkt hinaus. Die ausgestreckte Zunge wurde meist recht gut befunden und blieb maßgebend für Lungen-, Leber-, Nieren- oder sonstige Leiden. Darüber hinaus erstreckte sich die Untersuchungskunst nicht, und nachdem er unsere Zuchthausfähigkeit im allgemeinen festgestellt hatte, enteilte der Brave froh getröstet zum heimischen Frühstück. Eine Ahnung sagte uns, daß wir doch wohl länger als die Optimisten hofften, beieinander bleiben dürften, und wir beschlossen, uns zu organisieren, um allen an uns herantretenden Fragen einig entgegentreten zu können. Und das war gut, es hat uns in Château d’If eine relativ selbständige Stellung gegeben, die wir später nie mehr gekannt haben. Auf den Vorschlag der Patres wurde ich zum Präsidenten gewählt und auf meinen Vorschlag die Herren Dr. theol. Franz Beyer, der Grazer Kanzelredner, und Leutnant a. D. Kurt Schmidt aus Las Palmas als Beisitzer. Als unser Dolmetscher wurde Herr Peter Klein aus Saarburg-Lothringen gewählt, ein Herr, der aus französischer Abstammung im Herzen französisch war, dem aber meine Gefährten und ich das Zeugnis ausstellen können, daß er, solange er an unserer Seite wirkte, uns ein treuer und ehrlicher Kamerad gewesen ist. Ich betone das schon hier, weil er leider zu den ganz wenigen Ausnahmen in unseren schweren Erfahrungen gehört, die wir auf diesem Gebiet gesammelt haben. Und da ich von lobenswerten Ausnahmen spreche und unsere Leidenszeit daran so jämmerlich arm war, so will ich gleich hier unseres aufsichtführenden Sergeanten gedenken. Er war ein Mann aus einfachem Stande, von ehrlicher und vornehmer Denkungsart, von ernstem Wohlwollen gegen uns, die wir ihm unterstellt waren. Wir haben ihn als einzigen Vorgesetzten kennengelernt, den wir voll und ganz achten konnten. Ganz besonders hoch sei es ihm angerechnet, daß er deutsche Patrioten höher schätzte als deutsche Verräter und demgemäß handelte. Er ist der einzige dieser Kategorie geblieben. — Wir hatten Muße genug, unser Gefängnis von außen und innen zu betrachten, da wir zwei Stunden auf dem Platze spazierengehen durften, wo wir zugleich unsere erste Atzung: Kohlsuppe, Brot und ein Stück Wurst, erhielten. Der Hunger suggerierte uns ein köstliches Mahl, und wir äußerten uns gegenseitig sehr befriedigt über die schmackhafte Kohlsuppe. Dann ging’s in geordnetem Zuge zurück über die Brücke, zu zwei und zwei geordnet, um besser gezählt zu werden, was selten beim ersten Male ganz gelang. Die Pforte schloß sich knarrend hinter uns, und als ich sie sinnend von innen betrachtete, fiel mir zum ersten Male die große Inschrift auf dem Torbogen auf: Hotel du peuple souverain. Nun wußte ich, wo ich geborgen war. Nichts ist mir im Leben so zuwider gewesen, wie der souveräne Pöbel, von dessen Herrschaft Château d’If so prächtig Zeugnis ablegt. Dessen Zwangsgast also war ich geworden. — Wenden wir uns vom Eingang nach rechts, so stoßen wir auf ein großes Tor, welches in einen weiten und wüsten Raum führt, der uns einen geradezu unheimlichen Eindruck machte. Die Wände waren feucht und modrig, Gestank erfüllte die Luft, der Fußboden bestand aus trockenem und feuchtem Lehm, Staub, Abfällen von Lumpen und Kot. Dieser Raum erschien uns, so sehr wir unsere Ansprüche auf das Mindestmaß herabgesetzt hatten, kaum für Hunde bewohnbar.

      Dieses Gefängnis sollte in kurzem Grund zu einer tragikomischen Szene geben, und Grauen sollte ihm folgen. Der innere Längsraum verlängerte sich noch zu einem Querraum, dieser stieß — verbunden durch eine Tür — an den durch Dumas berühmt gewordenen Danteschen Kerker.

      Ob Dumas aus reiner Phantasie geschöpft hat, weiß ich nicht, einiges scheint wahr zu sein, oder wird heute noch geglaubt. Die Verbindung zwischen dem Kerker Edmond Dantes, des künftigen Grafen von Monte Christo, und dem des Abbé Faria durch ein ziemlich bedeutendes Mauerloch besteht noch. Wir haben sie des öfteren und genau beleuchtet. Fürwahr, genug Elend ist geschichtlich wie sagenhaft in den wenigen Räumen aufgespeichert, und man darf sich nicht wundern, wenn unseren erregten Sinnen sich manche der bleichen Gestalten belebten. Wußten wir, was Frankreich mit uns vorhatte?

      Aber der obere Raum bietet der Phantasie noch größeren Spielraum, und der war uns vorläufig als Wohnraum bestimmt. Eine Treppe führt vom unteren Brunnenhof auf die obere Galerie, welche die dort befindlichen Kerkerräume verbindet. Wenden wir uns von der Treppe gleich nach links, so kommen wir zum Kerker des Abbé Peretti, welches nun unseren Priestern Wohnung bieten sollte.

      Dann folgte das Zimmer der eisernen Maske, die wieder Dumas zu einem Roman gereizt hat. Die Inschrift des Nebenraumes lautet: Kerker Louis Philipps von Orleans, genannt Philipp Egalité! Dann kam die Zelle, die mir für die nächste Zeit Herberge gewähren sollte, und die wenigstens insofern bevorzugt war, als in sie, wie die Inschrift besagte, ein Glücklicher seinen Einzug gehalten hatte: In diesem Raum wurde der einbalsamierte Leichnam des Generals Kleber nach seiner Ueberführung aus Aegypten