J'accuse (Ich klage an). Max Georg Brausewetter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Max Georg Brausewetter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066112615
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Kerker des Verräters Prinzen Casimir, Bruder des Königs von Polen, Ladislaus XVII., der sich gegen Frankreich mit den Spaniern verbündete. Mir ist das Zimmer des Verräters später das behaglichste geworden, das ich in Château d’If fand, soweit von Behaglichkeit auch nur annähernd die Rede sein kann. Dem folgten die finsteren und geheimnisvolleren Räume. Es blieb noch ein letzter trostloser Raum, oder vielmehr waren es ihrer zwei, klein, abgeschlossen von allem, was Leben in dieser Ruine heißen durfte. Einer stockfinster, der andere, daran grenzend, halbfinster. Es knüpft sich auch an diesen Raum eine humoristische Erinnerung. Als wir aus unseren Zellen einige Wochen nach unserer ersten Besitznahme vertrieben waren, suchten Schmidt, Moritz, Bonitz und ich einen Raum, wo wir uns vor der Unmenge von Ungeziefer und Unrat wehren konnten, und fanden endlich diesen. Wir waren schon glücklich, ihn gemeinsam und eng geschlossen bewohnen zu dürfen, nachdem wir die nötigsten Ausbesserungen selber besorgt hatten, und baten unseren braven Sergeanten Bonel um die Erlaubnis, ihn uns anzuweisen, die er aber streng verweigerte, wohl weil höherer Befehl ihm verboten hatte, so kostbare Wohnräume an uns abzugeben. Um unsere Bescheidenheit zu beweisen, bringe ich hier die Inschrift, die über diesen beiden Dunkelräumen prangte, die uns so begehrenswert erschienen: Gefängnis der zum Tode Verurteilten. Der brave Sergeant hatte auch Humor bewahrt, denn gleich darauf überließ er uns das immerhin bessere Casimirgefängnis. Die Wendeltreppe führte weiter hinauf zum Mauggouvertturm mit flachem Dache, der einen wunderbaren Ausblick auf Marseille, Frioul und das offene Meer bot, leider aber die unangenehme Eigenschaft hatte, daß die köstlich reine Meerluft durch Abortdünste stark gefälscht wurde. Oben befand sich noch ein großer runder geschlossener Kuppelraum, in dem später neue Gefangene einquartiert wurden. Unten im Erdgeschoß war der große Ziehbrunnen, welcher uns hygienisch noch viel zu schaffen machen sollte. Weiter bot das Château noch drei große Räume, welche nicht von der Hauptpforte zugängig waren und eigene Türen nach draußen hatten: Es waren das zwei beiderseits gleichliegende und gleich große Kuppelräume im Erdgeschoß, deren einer uns bald als Hospital diente und ein dritter, der Donjon, in welchem die Hinrichtungen vollzogen wurden. Wenn nun auch durch die Freundlichkeit unseres Sergeanten schon am nächsten Tage Wandel geschaffen wurde in unserer Freiheitsbeschränkung, und unsere Lage sich in dieser Beziehung von Tag zu Tag besserte, so war doch unsere Ernährung ganz minderwertig und entsprach nicht im entferntesten dem, was wir gewohnt waren. Wir litten bald durch eine Unterernährung beträchtlich, die wir im Anfang für gering achteten, als unser Körper noch genug Widerstand bot. Wir Sisterleute waren zum größten Teil aus gesellschaftlichen Klassen, die an ein gewisses Wohlleben, und sei es in einfachsten Grenzen, gewöhnt waren. Was uns jetzt geboten war, stand in Quantität und Qualität weit unter dem, was der Körper forderte. Der täglichen Kohlsuppe wurden wir zum Speien überdrüssig, und als Zugabe immer ein Stück fetter und harter Knoblauchwurst verbesserte die Verdauung nicht. Ich fing bald an, meine Kameraden auf das eindringlichste zu warnen, ja nicht einer gewissen heroischen Energie das Wort zu sprechen, sondern sich klarzumachen, wie wichtig die Pflege des Leibes sei, und wie schwere Folgen eine Vernachlässigung haben könnte. Daß ich recht hatte, erwies sich später. So mußten wir uns Extrasachen kaufen. Zuerst den Morgenkaffee, den wir nicht geliefert bekamen, dann anderes. Aber auch mit dem Kaufen war es eine eigene Sache: wir waren von der Seite unserer Familie gerissen und hatten denen von dem knappen Gelde, das wir meist auf der Heimreise bei uns führten, geben müssen. So war unsere Barschaft gering, außer bei einigen wenigen, und wir wußten nicht, woher Geld nehmen. Es war vor allem das „Wie“ des Geldsendens, welches uns Sorge machte; dazu kam, daß kaum einer Franken bei sich führte, sondern Lire, Pesetas und Mark. Wie wechseln auf dieser Insel und bei wem? Freilich boten sich bald genug Gemütsmenschen an, die dieses Geschäft aus lauter Menschenfreundlichkeit auf sich nahmen; aber die Augen gingen uns über bei solchem Tausch, zu dem wir bald gezwungen waren.

      Also unser offizielles Essen, bestand morgens um 10 Uhr aus Suppe und Brot, dazu ein Stück Wurst oder Käse, abends 4½ Uhr Suppe; das war alles. Jeden zweiten Tag ein Stückchen Fleisch dazu. Die Suppe war, wie gesagt, fast immer eine reichlich wässerige Kohlsuppe, ohne anderen Inhalt; Bohnen oder Linsen gab es nicht oft. Einer solchen Leibespflege waren wir nicht gewachsen. Nun hält der Mensch viel aus, aber nicht auf die Dauer, und wenn wir noch anfangs uns aufrechterhielten, das blieb nicht lange so. Wir mußten Wandel schaffen, und damit begann unsere Organisation. Dieses unselige System, die Verpflegung der Gefangenen an den Meistbietenden zu vermieten, wie das in Château d’If und in Frioul geschehen war, muß natürlich zum Nachteil der Gefangenen ausschlagen. Wir wurden vom Unternehmer schamlos ausgehungert und konnten ihm nachrechnen, daß er für die Beköstigung des einzelnen — der für 80 Cts. Nahrung zu fordern hatte — höchstens die Hälfte bezahlte. Was half es uns, wenn auf dauernde Beschwerden, deren Berechtigung eine Nachprüfung ergab, der erste seines Amtes entsetzt und ein zweiter eingesetzt wurde? Zwei Tage ging es, und dann war es gerade wie vorher. Wir wandten uns also an unseren ersten Retter in der Not, eine Frau, welche die Kantine unter sich hatte, eine dicke, rundliche, freundliche und tüchtige Frau, welche mit gewisser Gutmütigkeit von nun an für uns sorgte, nie ohne reichlichen Gewinn (Wein mit 100 Proz. Aufschlag mindestens), aber doch zu unserer Zufriedenheit. Wir sind später weit mehr und in weniger freundlicher Art geschröpft worden. Die gute Frau hatte auch einige, die sie besonders bevorzugte, zu denen ich mich rechnete. Sie gab mir stets den Ehrentitel „monsieur le président“, und es gelang mir bald, in meinem kümmerlichsten Französisch mich mit ihr zu verständigen. So richteten wir denn ein tägliches Extragericht ein, das etwa 30–40 Cts. pro Teller kostete und auf Vorbestellung hin ausgehändigt wurde. Es handelte sich um einfache und nahrhafte Gerichte, und da die Frau außerdem für gute Schinkenstullen, Käse und Eier sorgte, so war der augenblicklichen Not einigermaßen gesteuert. Leider waren unter uns einige, die die Not zwang, sich alle Extrakost zu versagen. Denen zu helfen, fanden wir allmählich Wege. Schlimmer bestellt war es um andere, welche ihrer Widerstandsfähigkeit zu viel zutrauten, denen war nicht zu helfen. Aber die meisten kehrten bald von selber geängstigt um, bei zweien war es zu spät gewesen.

      Da die Geldfrage prekär war, so wurde es auch den meisten unmöglich gemacht, sich ein einigermaßen annehmbares Lager zu verschaffen. Geliefert wurden uns nur Strohmatratzen, und zwar in unserem Zimmer 4 für 11 Mann. Sie wurden zusammengelegt, und nun hatte jeder selber dafür zu sorgen, daß er sich zwischen eng zusammengekeilte menschliche Körper einzwängte. In unserem Zimmer — man verzeihe es einer kindlichen Gewohnheit aus früheren Zeiten, wenn ich Räume, die uns zwangsweise als Wohn- und Schlafräume zugewiesen wurden, euphemistisch mit dem Worte Zimmer bezeichne, derlei sprachliche Ungezogenheiten laufen dem Neuling so leicht durch, der sich noch nicht zum Verbrecherjargon durchgearbeitet hat — also in unserem Zimmer gab es einige Begüterte, welche sich den Luxus eigener Matratzen schon in den ersten Tagen gönnten. Dadurch wurde uns anderen der relative Luxus zuteil, daß wir das übriggebliebene Material in Anspruch nehmen und uns zu zweit auf einer Matratze breitmachen durften. Decken, Kissen usw. erhielten wir als durchaus entbehrlich nicht und suchten aus den Koffern vorerst das notwendige Ersatzmaterial. Mein Freund Bonitz aus Málaga und ich einigten uns nun zu ständigem gemeinsamen Besitze einer Matratze, die wir später, als unsere Finanzen stiegen, durch eine ganz neue eigene ersetzten. Auf dieser einen Matratze haben wir beide fünf Monate lang geschlafen und uns so aneinandergewöhnt, daß wir eine körperliche Beschränkung kaum mehr empfanden. Ich entsinne mich nicht eines Streites, den wir wegen Raummangels gehabt hätten. Wir waren bescheiden geworden, und andere Sorgen quälten uns weit einschneidender bald so schwer, daß Bequemlichkeit nicht mehr gegen seelische Leiden in Frage trat. Unsere Unterkunft entsprach auch sonst nicht dem „Ganz-wie-zu-Hause“, das merkten wir an den von nun an ständigen Begleitern, die in veränderter Gestalt grimmige Gewalt übten, und die wir schon nicht mehr entbehrten, wenn sie gleich kalt und frech uns selbst verhöhnten. Hier in Château d’If traten sie vorwiegend in Gestalt der Skorpione und Flöhe auf. Die letzteren behandelten wir von Anfang an mit souveräner Verachtung, den ersteren hatten wir mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, etwa täglich wurde Jagd auf sie gemacht und täglich einige Exemplare gefunden. Sie dienten auch zur Beschäftigung der schwindligen Gemüter. Wie oft haben wir sie zu dem sagenhaften Skorpionenselbstmord in Feuerumzingelung treiben wollen. Gelungen ist es uns nie. — Von uns hat auch keiner Selbstmord begangen! —

      So verteilten wir mit dem Sergeanten Bonel die verschiedenen Räume. Er überließ uns derartige Bestimmungen bald allein, da er sah, daß unsere Selbstverwaltung sehr gut