Und er ergriff abermals sein Buch und begann von neuem zu lesen.
Aber sein Geist folgte den Zeilen nicht, welche sein Auge las, fieberhafte Unruhe bewegte seine Nerven, er hörte in der tiefen Stille den Schlag der Uhren von den Türmen der Stadt jede Viertelstunde herüberschallen, und jede Viertelstunde schien ihm eine Ewigkeit.
Es schlug zehn Uhr, das Geräusch von Tritten und Stimmen, welches bis dahin noch durch die Korridore dumpf und unklar zuweilen zu ihm heraufgedrungen war, verstummte, die Unruhe des jungen Mannes vermehrte sich.
Es schlug ein Viertel nach zehn Uhr. Ein leises Geräusch am Schloß der Tür ließ sich hören.
Der junge Mann stand auf und blickte starr auf diese Tür, welche ihn von der Welt trennte.
Man hörte leise, kaum vernehmbar, langsam und von sicherer Hand bewegt die Feder des Schlosses spielen.
Die Tür öffnete sich ebenso langsam und geräuschlos. Ein Mann trat ein mit einem Paket unter dem Arm.
Der Leutnant sah diesen Mann mit forschender Neugier an.
Er erblickte ein völlig unbekanntes Gesicht.
»Hier, Herr von Wendenstein,« sprach der Mann flüsternd, »der Überrock eines Polizeiwachtmeisters und dessen Dienstmütze, ziehen Sie das schnell an, hier ein schwarzer Backenbart und Schnurrbart, so, jetzt den Überrock zugeknöpft, hier eine Zivilmütze, stecken Sie dieselbe in die Tasche. Jeder andere Ausweg aus dem Hause ist unmöglich, als allein der durch den großen Haupteingang. – Sie gehen die große Treppe hinab, unten stehen zwei Posten, der große Flur ist hell erleuchtet, die Tür nach der Straßentreppe offen. – Alles kommt darauf an, daß Sie schnell, fest und sicher hinausgehen, einmal aus dem Hause, sind Sie geborgen. – Hören Sie genau zu,« fuhr der Mann fort, sich nahe zu dem jungen Mann neigend und in leisem Ton in sein Ohr sprechend, »Sie gehen in das erste Bosket am Waterlooplatz, dort werfen Sie den Überrock und die Mütze fort, setzen die Zivilmütze auf, behalten aber den Bart, dann gehen Sie langsam und in ruhigem Schritt nach der Brücke, welche zum Friedrichswall führt, dort werden Sie weiteres hören. – Fragen Sie nicht,« sagte er, als der junge Mann eine Bewegung machte, »befolgen Sie genau, was ich gesagt, und nun – glückliche Reise!«
Herr von Wendenstein, der in seinem falschen schwarzen Barte, seinem Dienstüberrock und seiner Polizeimütze völlig unkenntlich war, ging mit leisen Schritten bis an das Ende des Korridors, dann stieg er rasch und fest die große Treppe hinab.
Fast hörbar schlug sein Herz, als er den großen, erleuchteten Flur betrat, auf welchem zwei Militärposten auf und ab gingen. Aus der in der Nahe gelegenen Polizeiwachtstube schallte das Geräusch ruhig sich unterhaltender Stimmen.
Der junge Mann ging mitten zwischen den beiden Posten hindurch, öffnete die äußere Tür, vor welcher auf dem Trottoir abermals ein Militärposten auf und nieder ging, und schritt in die kühle Nachtluft hinaus.
Nichts rührte sich in dem weiten Polizeigebäude, man hörte nur den ruhigen, gleichmäßigen Schritt der Schildwachen.
Herr von Wendenstein ging in ein ganz in der Nahe am Waterlooplatze befindliches Boskett, warf seine Verkleidung zur Erde, setzte die Zivilmütze auf und schritt langsam der kleinen Brücke zu, welche der Mann ihm bezeichnet.
Eine dunkle Gestalt löste sich von einer Ecke der zum Waterlooplatze führenden Straße, trat in das Boskett, welches der Leutnant verlassen, machte aus den von ihm weggeworfenen Gegenständen ein Paket und schritt dann, dies Paket unter dem Arm, langsam der inneren Stadt zu.
Der junge Mann schritt über die Brücke. Wenige Menschen gingen dort im zitternden Schein der zwischen den Bäumen hervorleuchtenden Gaslaternen.
Ein kleiner Mann mit einer bürgerlich gekleideten weiblichen Gestalt am Arm trat dem Leutnant entgegen.
»Guten Abend!« rief er mit lauter Stimme, »endlich kommst du, Vetter, wir haben dich lange erwartet, was hast du noch in der Gesellschaft getrieben? – jetzt schnell nach Hause!«
Und leise fügte er hinzu, dicht an den Leutnant herantretend:
»Kein Wort, keine Bewegung, geben Sie der Dame den Arm!«
Eine zitternde Hand legte sich auf den Arm des jungen Mannes.
»Herr Sonntag – Helene!« flüsterte dieser, aber schon schritt der kleine Kaufmann Sonntag eilig die von Bäumen eingefaßte Straße entlang, und Helene zog ihren Verlobten in raschem Schritt mit sich fort.
Bald erreichten sie das Ende des Friedrichswalls und schritten rasch dem Gehölz zu, welches man die Eilenriede nennt und das mit seinem schönen Kranze von alten, hohen Bäumen die Stadt Hannover umgibt.
Der kleine Sonntag schnitt jeden Versuch des Leutnants, zu sprechen, schnell mit der kurzen Bemerkung ab: »Warten Sie, bis wir aus der Stadt sind!«
So begnügte sich denn der junge Mann damit, in diesem eiligen, unruhevollen Gange, immerfort vorwärts schreitend, den zarten Arm sanft zu drücken, welcher auf dem seinen ruhte, und zuweilen die Hand, welche leise diesen Druck erwiderte, liebevoll mit der seinigen zu berühren.
Die drei Personen hatten die letzten Häuser der Stadt erreicht, niemand hatte sie beachtet, sie schienen aus einer Gesellschaft zurückkehrende Bürger zu sein.
Vorsichtig spähte Herr Sonntag umher. Niemand war auf weite Entfernung zu erblicken.
»Jetzt schnell in den Schatten der Bäume!« rief er und schritt den beiden jungen Leuten voran aus dem Lichtkreis der letzten Laterne hinaus.
Der Schatten der Eilenriede nahm sie auf.
»So,« rief Herr Sonntag, tief aufatmend, »die erste und dringendste Gefahr ist überwunden, mein Fräulein, Sie haben uns viel genützt, ein Mann, der eine Dame führt, erscheint niemals verdächtig, jetzt überlasse ich Sie,« fügte er lächelnd hinzu, »Ihrer Unterhaltung, wir haben noch zehn Minuten zu gehen, ich gehe zwanzig Schritt voraus, aber unter der Bedingung, daß Sie mich nicht aus den Augen verlieren und mir im Tempo meines Schrittes folgen, die Augenblicke sind kostbar.«
Und schnell schritt er auf dem in der Dunkelheit erkennbaren weißen Wege voran.
Die jungen Leute folgten ihm in leise flüsterndem Gespräch, aber sie mußten schnell schreiten, denn die dunklen Umrisse der Gestalt des Herrn Sonntag bewegten sich in unaufhaltsamer Eile vorwärts, einem Wege folgend, der zur großen, die Eilenriede durchschneidenden Chaussee führte.
Es waren Augenblicke von eigentümlicher, tiefer Bewegung, welche die beiden durchlebten. Die Freude über den glücklich gelungenen Anfang der Rettung, der Schmerz der Trennung für eine Dauer, die nicht zu bemessen war, die bange Sorge um die Gefahren der nächsten Tage, denn noch mußte ja der Flüchtling das ganze Land bis zur Grenze durchziehen, das alles füllte und schwellte diese jungen Herzen bis zum Zerspringen und schnürte sie wieder zusammen mit den eisigen Ringen einer krampfhaften, angstvollen Unruhe, es waren nur abgerissene Worte, welche sie sprachen, Worte der Liebe, Versicherungen der Treue, wehmütige Erinnerungsklänge aus der Vergangenheit, Angst und Hoffnung, Glück und Schmerz in wundersam durcheinander klingenden Tönen.
So schritten sie weiter und weiter in fliegender Eile, schnell atmend in der Erregung des hastigen Ganges und der inneren Unruhe, der frische Nachtwind strich über ihre glühenden Wangen, und vom dunklen Himmel, durch die fliegenden Wolkenstreifen, schimmerten die ewigen Sterne herab, in majestätischer Ruhe und Stille niederbückend auf diese zitternden, eilenden Menschen da unten, welche flohen vor anderen Menschen, denen sie nichts Böses getan – und die ihnen weder Haß noch Rache geweiht; des unaufhaltsam daherschreitenden Völkerschicksals verhängnisvolle Gewalt trieb die Verfolgten vor sich her, wie sie ihre Gegner trieb, sie zu verfolgen. Die Sterne aber da oben wußten nichts von diesen Kämpfen und Leiden der Bewohner der Erde, jene Steine, deren lichte Bahnen, in ewiger Ordnung und Harmonie verschlungen, sich niemals kreuzen und feindlich durchschneiden, wie die Wege der ringenden Menschen, die an der Grenze des Licht- und des Schattenreiches sich in harten Kämpfen emporringen müssen aus den Wollen der Finsternis zur ewigen Klarheit