»Unmöglich, mein Fräulein,« rief Herr Sonntag, indem er einen Blick in den Laden warf, wo seine Frau mit Frau von Wendenstein beschäftigt war.
»Warum unmöglich?« flüsterte Helene, indem sie aufmerksam eines der Körbchen betrachtete, »ich will alles – alles tun, was die Vorsicht erfordert, aber ich bitte Sie, ich bitte Sie inständigst, machen Sie es möglich, daß ich ihn noch einmal sehe.«
Und mit tränenschimmerndem Auge blickte sie in das intelligente Gesicht des kleinen Kaufmanns.
Dieser sah sie voll Teilnahme an und dachte einen Augenblick nach.
»Gut – mein Fräulein,« sagte er dann, »vielleicht ist es sogar nützlich, wenn er mit Ihnen die Stadt verläßt, das erregt noch weniger Aufmerksamkeit. – Können Sie heute abend um neun Uhr hier sein?«
»Ich werde pünktlich kommen,« sagte Helene.
»Noch eins,« sagte Herr Sonntag, indem er durch eine Wendung dem Laben den Rücken zuwendete und ihr eine Stearinkerze reichte, »senden Sie Herrn von Wendenstein heute Abend diese Kerze, diese allein.«
Helene verbarg die Kerze in ihrer Mantille.
»Gut denn, kehren wir jetzt in den Laden zurück – nehmen Sie ein Körbchen.«
Beide verließen das Magazin, nachdem Herr Sonntag das Paket mit dem goldgefüllten Arbeitskörbchen in ein Schubfach geworfen und verschlossen hatte.
»Wie freue ich mich,« rief er Frau von Wendenstein zu, »daß das Fräulein endlich doch etwas Passendes gefunden!«
Lächelnd zeigte Helene das Arbeitskörbchen, welches sie in der Hand hielt, der alten Dame.
»Auch ich bin mit meinen Einkäufen fertig,« sagte diese aufstehend, Herr Sonntag und seine Frau begleiteten die Damen bis an den Wagen und reichten die gekauften Sachen hinein. [leer] Traurig saß am Abend der Leutnant von Wendenstein in seinem Zimmer. Der Abend dunkelte herein, in traurige Gedanken versenkt, stützte der junge Mann den Kopf auf den Tisch und blickte hinaus in das blasse Abendrot, welches matt den wolkenumzogenen Himmel erhellte.
Es war die Stunde, in welcher sich sonst die Familie um den traulichen Teetisch versammelte, und je heller dies freundliche Bild in der Seele des jungen Mannes heraufstieg, um so trüber und trauriger trat ihm die dunkle Einsamkeit um ihn her entgegen.
Er seufzte tief. »Arme Helene!« sagte er leise. »Wie anders, wie viel schöner war es doch,« flüsterte er, »der Schlacht entgegenzureiten, und doch lag in ihr die Drohung des Todes, eine größere Gefahr, als hier mir entgegentritt! Ich erinnere mich, einmal ein Bild gesehen zu haben,« sagte er, düster vor sich niederblickend, »einen jungen Mann in einer Zelle – mit der Unterschrift: ›Die erste Viertelstunde von fünfundzwanzig Jahren‹, daran erinnert mich meine jetzige Lage, doch ich bin ja schon einen Tag hier – und,« rief er, wieder mutig aufblickend, »fünfundzwanzig Jahre wird es ja wohl auch nicht dauern!«
Ein Geräusch von Schlüsseln wurde draußen hörbar, das Schloß knirschte, der Riegel wurde zurückgeschoben, die Türe öffnete sich. Der alte Diener des Oberamtmanns traf ein vom Schließer und einem Beamten begleitet, er trug einen Korb und stellte denselben auf den Tisch.
»Viele Grüße von der gnädigen Herrschaft und Fräulein Helene,« sagte er, den jungen Mann mit tiefer Teilnahme anblickend.
»Wie geht es?« rief der Leutnant lebhaft, »ist meine Mutter sehr unruhig – und Helene, was sagt sie? –«
»Die Herrschaften sind betrübt über das Unglück des Herrn Leutnants,« sagte der alte Diener, »aber sie haben guten Mut – und hoffen, daß der Herr Leutnant bald wieder frei sein werden.«
»Nun und was bringst du?« rief der junge Mann, neugierig den Korb öffnend.
»Ich bitte um Verzeihung,« sagte der Beamte, »ich muß jeden Gegenstand untersuchen.«
Der Diener zog aus dem Korbe einige Brödchen, welche der Leutnant auf das Ersuchen des Beamten vor dessen Augen zerbrach, dann einiges kaltes Fleisch, bereits zerlegt, eine Flasche Bordeaux und ein Glas, einen Leuchter, eine Kerze und Schwefelhölzchen. Der Beamte betrachtete jeden Gegenstand aufmerksam und schien an keinem etwas auszusetzen zu haben.
»Darf ich Sie bitten, auch diesen Bordeaux zu untersuchen?« sagte der Leutnant, ein Glas einschenkend.
Her Beamte zögerte einen Augenblick, dann trank er den Wein und sagte höflich: »Auf baldige Freilassung!«
»Ich kann nicht anstoßen, da ich nur ein Glas habe,« rief der Leutnant heiter, indem er das Glas wieder füllte, »allein daran sind wir Soldaten gewöhnt, wenn ich frei bin, werde ich Sie einladen, mit mir ein fröhlicheres Glas zu leeren.«
Der Abend war immer dunkler geworben.
Johann steckte die Kerze auf den Leuchter und zündete sie an.
»So sparsam?« rief der Leutnant, »nur eine Kerze?«
»Der Herr Oberamtmann glaubten, daß nicht mehr erlaubt wäre, morgen sollen der Herr Leutnant mehr haben, wenn es nicht verboten ist?« sagte er mit fragendem Blick auf den Polizeibeamten.
»Ich sehe kein Bedenken dabei,« bemerkte dieser.
»Und hier noch ein Buch,« sagte der Diener, einen Band aus der Tasche ziehend.
»Ich bitte,« rief der Beamte, das Buch ergreifend und sorgfältig schüttelnd.
Ein Zettel fiel heraus.
Der Beamte hob ihn auf und las: »Herzlichste und innigste Grüße, Helene.«
»Von meiner Braut!« rief der junge Mann, die Hand ausstreckend.
»Ich bedaure, Herr von Wendenstein,« sagte der Polizeibeamte, »ich darf Ihnen das Papier nicht lassen, es könnte eine geheime Schrift darauf sein, man hat dergleichen,« fügte er mit feinem Lächeln hinzu.
Traurig sah der junge Mann das Papier, welches die Hand seiner Geliebten berührt hatte, in der Tasche des Beamten verschwinden.
»Nun gute Nacht, Sie bedürfen nichts mehr?« fragte dieser.
»Nichts, ich danke, gute Nacht, Johann, herzliche Grüße zu Hause!«
Der Schlüssel knirschte im Schloß, die Riegel klirrten, der junge Mann blieb allein.
Traurig setzte er sich nieder, die Einsamkeit ist schmerzlicher, wenn sie einen Augenblick durch einen Lichtstrahl aus der lebensvollen, bewegten Welt erhellt worden ist.
Er schlug das Buch auf. Es waren die Papiere des Pickwickklubs von Boz, jene unerschöpfliche Fundgrube humoristischer Welt- und Menschenkenntnis.
Der Leutnant begann zu lesen und bald zog unwillkürlich ein leichtes Lächeln über sein Gesicht, er las weiter und weiter und vergaß über diesen fröhlichen, ewig jungen und frischen Lebensbildern seine Lage.
Plötzlich begann das Licht trübe zu brennen und erlosch nach kurzem Flackern gänzlich.
Überrascht erhob sich der junge Mann, suchte tastend die Zündhölzchen und wollte die Kerze wieder anzünden; statt des Dochtes fand er einen harten Gegenstand, welcher die Flamme nicht annahm.
Herr von Wendenstein nahm die Kerze vom Leuchter, um sie zu untersuchen, und fand an der Stelle des Dochtes einen kleinen, schmalen Zylinder von Metall, am untern Ende offen und so in die Mitte der Kerze gefügt, daß dieselbe äußerlich vollkommen glatt und an beiden Enden brennbar war.
Rasch kehrte der junge Mann die Kerze um, steckte sie verkehrt in den Leuchter und zündete den Docht des unteren Endes an.
Die kleine Metallröhre enthielt ein fein zusammengerolltes Blatt Papier.
Herr von Wendenstein las von einer ihm völlig unbekannten Hand die Worte:
»»Entkleiden Sie sich nicht und bleiben Sie wach, die Befreiung naht.«
»Was ist