Nach kurzer Zeit folgte ihm Herr Ebers, ein kleiner Mann mit rothem, frischem Gesicht, und der Tierarzt Hische, sein Partner im Sechsundsechzig.
Vorsichtig schloß der Wirt die Türe.
»Wißt ihr,« rief Herr Sonntag eifrig, aber mit gedämpfter Stimme, »wißt ihr, daß die ganze preußische Polizei im Gange ist, alle Offiziere werden überwacht, der Leutnant von Wendenstein ist verhaftet!«
»Wendenstein?« sagte der Tierarzt Hische, »da haben sie wohl den Unrechten erwischt, den werden sie wohl wieder loslassen müssen, das wird nichts zu bedeuten haben!«
»Wohl hat es etwas zu bedeuten,« rief Sonntag, »der arme Wendenstein hat verschiedene Papiere bei sich aufbewahrt, die haben sie gefunden, natürlich sagt der Herr nicht, wem sie gehören, und da muß er denn dafür haften.«
»Schlimm, schlimm!« sagte Hische, traurig den Kopf senkend.
»Schlimm, schlimm!« rief der kleine Sonntag eifrig, »daß es schlimm ist, weiß ich allein, aber hier gilt's, es besser zu machen, der Wendenstein muß fort!«
»Fort?« rief Hische erstaunt, »fort aus diesem Polizeigebäude, das wie eine kleine Festung verwahrt ist und wo preußische Soldaten Wache stehen? – Ihr seid nicht gescheit!«
Sonntag lächelte.
»Hört mich an,« sagte er, »ich habe einen Plan, er ist ganz fertig, es handelt sich nur um die Ausführung.«
»Ja, die Ausführung!« sagte der Tierarzt Tische langsam, »das ist die Sache!«
»Es handelt sich um drei Dinge,« sagte Sonntag, die beiden andern nahe an sich heranziehend, »erstens um Geld – das besorge ich, zweitens,« fuhr er fort, »um ein Pferd, ein vortreffliches, schnelles Pferd, das müßt Ihr besorgen, Hische.«
»Aber wie?« fragte dieser.
»Das werde ich Euch sagen, es ist ganz leicht,« rief Sonntag. »Drittens,« fuhr er fort, »und das ist das Schwerste, gilt es, das Gefängnis zu öffnen und den Leutnant bis auf die Straße zu bringen.«
Herr Ebers lächelte. »Das könnte sich machen lassen,« sagte er.
»So wollen wir sogleich alles Nähere festsetzen,« rief Sonntag, »ich werde hier warten, wenn die Gäste fort sind, kommt zurück, es sind zwar alle gute Patrioten, aber von solchen Dingen muß niemand etwas wissen, der nicht bei der Ausführung tätig sein soll.«
Ebers und Hische kehrten einer nach dem andern in die Gastzimmer zurück, nach einer Stunde brachen die letzten Gäste auf, der Wirt begleitete sie hinaus, sagte ihnen mit lauter Stimme gute Nacht und verschloß geräuschvoll das Tor, die Lichter verlöschten ml Ballhofe, das Hausgesinde ging zu Bett.
Im Zimmer des Wirts aber saßen bei kleiner Lampe mit dunklem Schirm bis zum frühen Morgen die drei Männer, welche sich vorgenommen hatten, den Leutnant von Wendenstein aus seinem Gefängnis zu befreien. Am nächsten Vormittag gegen zwölf Uhr saß Frau von Wendenstein mit ihren Töchtern und Helene in ihrem Wohnzimmer. Der Oberamtmann war ausgegangen, um sich zu erkundigen, was gegen seinen Sohn vorläge, und um Vorstellungen gegen dessen Verhaftung zu machen. Die alte Dame saß ernst und still da. Man hatte ihr gesagt, daß die Verhaftung ihres Sohnes nur auf einem Mißverständnis beruhen könne, das machte sie ruhiger und ergebener, aber ihre stille Seele war nichtsdestoweniger tief erschüttert durch diesen plötzlichen, harten Eingriff in das ruhige Leben ihres Hauses und in die Hoffnungen, deren Erfüllung sie von der nächsten Zukunft schon erwartete.
Helene war bleich und schien ruhig und ergeben. Sie sprach der alten Dame Mut ein und versuchte mehrmals mit lächelndem Munde heitere Bemerkungen zu machen, in der Erwartung der baldigen Rückkehr ihres Verlobten, aber der fieberhafte Glanz ihrer Augen, das unwillkürliche Beben der Lippen, das häufige hastige Aufstehen, bei welchem sie sich irgendetwas im Zimmer zu schaffen machte, bewiesen genügend, daß ihre äußere Ruhe nur die Folge einer Willensanstrengung war, mit welcher sie die bange Unruhe ihres Herzens zurückdrängte.
Der Diener trat ein und meldete den General von Knesebeck.
Der frühere hannöverische Gesandte am wiener Hofe trat ein im einfachen Zivilanzug. Seine hohe Gestalt war fest und kräftig wie früher, aber auf seinem scharfen, ausdrucksvollen Gesicht lagen die Spuren der Eindrücke, welche das letzte ereignisschwere Jahr hinterlassen hatte; ernst und traurig blickten seine klaren, braunen Augen.
Er begrüßte die Damen, küßte Frau von Wendenstein mit ritterlicher Artigkeit die Hand und setzte sich an ihre Seite.
»Ich komme,« sagte er, »meine gnädige Frau, um Ihnen meine herzliche Teilnahme an dem unangenehmen Fall auszusprechen, der Ihre Familie betroffen hat, zu meiner Freude höre ich von allen Bekannten, daß er in keiner Weise ernstlich kompromittiert sein soll und also nichts weiter zu besorgen hat, als eine kurze Haft.«
»Gott gebe es!« sagte Frau von Wendenstein seufzend. – »O welche Zeiten, lieber General,« fuhr sie fort, indem ihre Augen sich mit leichtem Tränenduft verschleierten, »wer hätte das vor einem Jahre gedacht, als wir so ruhig in unserm alten Hause in Blechow saßen! – Für Sie,« sagte sie sanft lächelnd, »ist dieser Eingriff in die häusliche Ruhe weniger empfindlich, die Diplomaten sind daran gewöhnt, ein Leben wie die Zugvögel zu führen und ihr Haus nur wie ein Absteigequartier, eine Station auf der Reise des Lebens zu betrachten.«
»Wenn es nur das wäre,« sagte bei General, »so könnte man freilich leicht darüber hinwegkommen, obgleich trotz unseres wechselnden Lebens sich die menschliche Natur immer mit den tausend Ranken der Gewohnheit an das tägliche Dasein knüpft und schmerzlich davon losreißt, aber,« fuhr er mit schmerzlichem Tone fort, »hier handelt es sich um mehr als das, eine ganze, schöne und ehrenvolle Vergangenheit wird begraben, um nie mehr zu erstehen!«
»Viele hoffen auf eine Auferstehung,« bemerkte Frau von Wendenstein, »und trösten sich mit der Geschichte der ersten Jahre dieses Jahrhunderts.«
»Ich weiß es wohl,« erwiederte der General, »aber,« fügte er ernst und trübe hinzu, »sie täuschen sich; damals brachte die nationale Erhebung des deutschen Volkes folgerichtig die Selbständigkeit Hannovers zurück, heute ist das anders, Hannover ist geopfert der Idee der nationalen Einigung, nur große, weitumfassende Ideen, klares, festes und kluges Handeln könnten dem Welfenhause seine Bedeutung, vielleicht unter günstigen Umständen seinen Thron wiedergeben, aber davon ist man leider sehr weit entfernt,« sagte er seufzend, »man beschränkt sich auf kleinliche Agitationen, welche viele ins Unglück stürzen werden. – Leider höre ich, daß in diesem Augenblick solche Agitationen ernster und gefährlicher Natur im Gange sein sollen, deshalb auch die strengen Maßregeln. Wie traurig ist es, daß alle diese jungen Leute, aus einem in seinem innern Kern so edlen und hochachtungswerten Motiv, sich hinreißen lassen, sie werden es einst bitter bereuen –«
Er schwieg abbrechend.
»Und Sie, Herr General,« sagte Frau von Wendenstein, »werden Sie hier bleiben?«
»Ich denke mich in eine kleinere Stadt zurückzuziehen,« sagte der General, »und fern von allen Beziehungen der Welt und der Politik ruhig meinen Altersstudien und meinen Erinnerungen zu leben, leider,« fügte er seufzend hinzu, »schließen dieselben traurig genug ab.«
Der Blick der alten Dame ruhte teilnahmsvoll auf dem von schmerzlicher Bewegung durchzuckten Antlitz des Generals.
»Sie haben keine freundlichen Eindrücke von Hietzing mitgebracht?« sagte sie sanft.
Zornige Entrüstung flammte im Auge des Herrn von Knesebeck auf.
»Ich mag davon nicht sprechen, meine gnädige Frau,« sagte er mit gepreßtem Tone, »ich habe bis zum letzten Augenblick alles für die Sache des Königs getan, ich habe keine Schwierigkeiten und keine Mühen gekannt, und endlich hat man mich entlassen – wie einen Übellästigen, es ist das ein Kapitel über die Dankbarkeit der Fürsten,« fügte er mit bitterem Lächeln hinzu. – »Ich bin übrigens weit entfernt,« fuhr er nach einem tiefen Seufzer fort, »den armen Herrn verantwortlich zu machen, er ist umgeben von