Der Polizeidirektor sah ihn mit tief forschendem Blick an. Auf den Zügen des jungen Mannes stand die Wahrheit seiner Worte geschrieben.
Voll Mitleid ruhte der Blick des Polizeidirektors auf diesem so offenen, so freien und so edlen Gesicht.
Er schwieg einige Augenblicke. Zögernd und als ob die Worte widerstrebend von seinen Lippen sich lösten, sagte er dann:
»Ich wünsche, daß Sie die Wahrheit sprechen, Herr von Wendenstein, als Mensch mag ich Ihnen glauben, als Beamter darf ich es nicht. – Ich muß,« fügte er noch zögernder hinzu, »ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß, wenn Sie die Wahrheit sagen, es meine Pflicht ist, Sie zu fragen, wer Ihnen diese Papiere zur Aufbewahrung gegeben hat, es ist dies der einzige Weg für Sie, um der Behörde zu beweisen, daß Sie nicht unmittelbar beteiligt sind, und um ihr die Möglichkeit zu geben, den wahren Schuldigen zu entdecken und zu verfolgen.«
Herr von Wendenstein erhob stolz den Kopf.
»Ich bin hannöverischer Offizier und Edelmann,« erwiderte er.
Ein heller Strahl sympathischer Teilnahme blitzte in dem Auge des Polizeidirektors auf. Dann verschleierte sein Blick sich traurig, und mit ernstem Tone sprach er:
»Wenn Sie die Mitteilung über den Eigentümer dieser Papiere ablehnen, so müssen Sie persönlich die Verantwortung tragen, welche der Besitz derselben nach sich zieht, und – ich sage Ihnen,« fügte er hinzu, »diese Verantwortung ist schwer!«
»Ich übernehme sie,« sagte der junge Mann ruhig.
»Die Fragen, welche ich Ihnen vorher gestellt habe,« fuhr der Polizeidirektor fort, »modifizieren sich wesentlich durch diesen Zwischenfall, ich muß mit dem Zivilkommissar konferieren und dem Generalgouverneur Vortrag halten. – Ich muß Sie also bitten, sich zunächst in Ihrem Zimmer einzurichten.« Er zog die Glocke. »Führen Sie den Herrn nach seinem Zimmer,« befahl er dem eintretenden Beamten.
Und mit artiger Verbeugung entließ er den jungen Mann, welcher dem Beamten folgte, der ihn durch einen langen Korridor führte. Vor einer verschlossenen Tür blieb er stehen und rief aus einem Seitenraume den Schließer, welcher das große, schwere Schloß öffnete.
Herr von Wendenstein trat in einen nicht großen, aber hellen Raum, das breite Fenster war mit starken Eisenstangen dicht vergittert, die Wände kahl und weiß gestrichen, ein einfaches, rein überzogenes Veit stand an der einen Wand, ein Tisch und zwei Stühle an der anderen, eine Wasserflasche und ein Glas vervollständigten die Ausstattung des Zimmers.
Der junge Offizier schauderte leicht zusammen beim Eintritt in dieses Gemach, das so scharf abstach von den eleganten, komfortablen Umgebungen, an welche er gewöhnt war.
»Man wird mir Wäsche und Kleidungsstücke bringen,« sagte er, »darf ich mir auch ein Sofa kommen lassen?«
»Ich sehe kein Hindernis,« antwortete der Beamte.
»Und darf ich Licht brennen?«
»Nach der Hausordnung bis neun Uhr abends, doch zweifle ich nicht, daß man eine Ausnahme gestatten wird.«
»Wollen Sie dann die Güte haben, dem Diener, welcher meine Sachen bringt, zu sagen, daß er mir Kerzen verschaffen solle?«
Der Beamte neigte schweigend den Kopf und entfernte sich.
Die Tür wurde von außen verschlossen, ein Riegel vorgeschoben. Der junge Mann blieb allein.
Er ging mit einigen großen Schlitten in dem bereits dunklen Gemach auf und nieder.
Dann blieb er vor dem vergitterten Fenster stehen und blickte zum Himmel hinauf, an welchem die Steine, noch halb überhellt von dem Schein des sinkenden Tages, in bleichem Licht zu flimmern begannen.
»Da draußen tauscht das volle, reiche Leben,« sagte er leise, »ich habe es zurückgewiesen, um in häuslicher Stille das Glück des Herzens zu finden – und nun? – Eingeschlossen in die öden Mauern des Gefängnisses, vielleicht auf lange –« Er seufzte tief. »Wenn nur wenigstens die anderen zur rechten Zeit entkommen, die anderen, welche hinausziehen wollen – in die Freiheit!«
Er warf sich auf sein Bett und versank in tiefe Träumereien, aus denen ihn das Bedürfnis der jugendlichen Natur bald in wirklichen Schlaf hinüberführte. [leer] Herr von Tschirschnitz hatte inzwischen in dem Restaurationslokal der Georgshalle mit aller Sorglosigkeit eines vollkommen unbeschäftigten jungen Mannes und mit dem ganzen kräftigen Appetit eines Magens von siebenundzwanzig Jahren sein Souper vollendet. – Er hatte sich lange bei dem Dessert aufgehalten, eine halbe Flasche Portwein getrunken, mit einigen hinzukommenden Herren geplaudert, kurz, auf die natürlichste und scheinbar angenehmste Weise von der Welt seine Zeit totgeschlagen, so daß draußen die Dunkeltzeit vollständig herabgesunken war, als er endlich seine Rechnung bezahlte und sich anschickte, das Lokal zu verlassen.
In diesem Augenblick trat rasch ein kleiner, bleicher Mann mit einem nervösen Gesicht und funkelnden, schwarzen Augen herein. Er trug ein kaufmännisch geschlossenes Paket mit einer großen Postadresse unter dem Arm.
Er trat rasch an den Schenktisch und rief dem Kellner zu: »Ein Glas Bier – aber schnell, ich habe noch einen Gang zu machen und bin sehr durstig! – Guten Abend, Herr von Tschirschnitz,« sagte er, während der Kellner ein Glas füllte, »wie geht es Ihnen? ich habe Sie lange nicht gesehen.«
»Wie Sie sehen, Herr Sonntag, ganz gut,« erwiderte Herr von Tschirschnitz lachend, indem er dem Eingetretenen, der sich ihm genähert, die Hand reichte, »man ernährt sich, so gut man kann,« fügte er hinzu, nach den Resten seines Soupers auf dem kleinen Tische hindeutend.
»Ich muh Sie sogleich sprechen – folgen Sie mir,« flüsterte der Kaufmann Sonntag, fast ohne die Lippen zu bewegen, und laut rief er: »Ja, ja, die Herren haben jetzt nichts zu tun. Nun, in Ihren Jahren erträgt sich das leicht, man ist nicht in Verlegenheit, um kleine angenehme Beschäftigungen,« er leerte mit einem durstigen Zuge sein Glas und sagte mit einer Verbeugung gegen den jungen Offizier: »Ich empfehle mich Ihnen, Herr von Tschirschnitz, ich muß versuchen, ob ich die Post noch offen finde, um dies Paket abzusenden.«
Und schnell entfernte er sich durch eine Seitentür, welche nach einem Korridor des Hauses führte, der auf eine dem Bahnhof naheliegende Straße ausmündete.
Herr von Tschirschnitz schlenderte langsam in dem Lokale auf und ab.
»Wenn ich nur wüßte, was man in dieser langweiligen Zeit mit seinem Abende anfangen sollte,« rief er laut und trat zu einer Gruppe von Herren, welche an einem Nebentische saßen.
Nachdem er sich hier einige Zeit unterhalten, ging er wieder langsam auf und nieder und verschwand dann schnell und unbemerkt durch dieselbe Seitentür, durch welche sich der Kaufmann Sonntag entfernt hatte. Dieser stand in dem matt erleuchteten Korridor.
Rasch trat er in eine Tür, welche zu einer Art von Domestikenzimmer führte, in welchem ein Licht brannte.
Herr von Tschirschnitz folgte ihm.
»Die Gefahr ist groß und unmittelbar!« rief der kleine Kaufmann Sonntag, als die Tür geschlossen war, »Sie werden alle überwacht; draußen vor dem Eingänge der Georgshalle steht ein Polizeibeamter, Herr von Wendenstein ist soeben verhaftet, Sie dürfen nicht nach Hause, Sie müssen sofort abreisen!«
»Aber mein Gott,« rief Herr von Tschirschnitz erschrocken – »wie –«
»Haben Sie Geld?« fragte Herr Sonntag, eifrig sein Paket öffnend.
»Genug,« erwiderte Herr von Tschirschnitz, »aber –«
Herr Sonntag breitete den Inhalt seines Paketes auf dem Tische aus.
»Ich bitte Sie um Gottes willen, fragen