Abgetaucht. Constanze Dennig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Constanze Dennig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783902998132
Скачать книгу
unsere Kommunikation gerettet, falls du es auflädst und abhebst. Und …«, ich küsse ihn auf den Mund, »ich liebe dich«. Und schon bin ich weg – ohne zuzusperren.

      Auf meinem Handy ist wieder die unbekannte Nummer. Der Anrufer hat es sieben Mal versucht. Ich rufe nicht zurück, denn ich nehme an, dass es ein Patient ist, der irgendwie meine Privatnummer herausbekommen hat. Zurückrufen fange ich mir erst gar nicht an! Wenn die was wollen, dann sollen sie in der Ordination anrufen. Mutter freut sich, wenn sie den kostenpflichtigen Rat einer lebensweisen Mittachtzigerin geben darf. Bei Mutter ist nichts gratis. »Was nichts kostet, ist nichts wert«, meint sie und ihr Rat hat den Wert von vierundachtzig Lebensjahren. Und sie hat immer recht!

      Ich steige in die U4 und fahre Richtung Justizanstalt Wien-Mittersteig. Der Fall von vorgestern, der mit dem Handydiebstahl, der leider tödlich ausgegangen ist, bedarf noch einer genaueren Exploration, sonst macht mich der Verteidiger zur Schnecke. Bei den § 20 Rechtsbrechern (also Unzurechnungsfähigkeit) liegt der Ausgang einer Verhandlung immer am Gutachten. Dementsprechend pingelig sind die Verteidiger. Bei diesem Fall ist sowohl der Mörder klar als auch die Leiche da und somit die Tat nicht zu leugnen, also bleibt nur der Tatbestand der Unzurechnungsfähigkeit, mit dem sich der Anwalt profilieren kann. Der Anwalt möchte, dass sein Klient stockbesoffen war und damit unschuldig ist. Den Gefallen werde ich ihm nicht tun.

      Ich verabscheue sowohl den Körper- als auch den Blickkontakt mit anderen Öffi-Benutzern und betrachte es als eine Zumutung, dass ich durch deren Telefonitis belästigt werde. Als allerdings mein Handy klingelt, hebe ich ab, da es Erika ist. Ich werde mich aber kurzhalten.

      »Hallo?«

      »Guten Morgen!« Erika singt förmlich ins Telefon, sie scheint sehr fröhlich zu sein.

      Ich flüstere: »Bin in der U-Bahn. Wenn es lang dauert, ruf ich später zurück.«

      »Nicht nötig, wollte dir nur sagen, dass an dem Selbstmord nicht zu zweifeln ist. Vergiss es!«

      »Weshalb?«

      »Deshalb! Aus!«

      »Wer war der Gutachter?«

      »Würzl.«

      Ich flüstere nicht mehr.

      »So ein Schwein! Mir gegenüber tut er so, als ob er nichts damit zu tun hätte. Klar, der wurde von der Versicherung bestochen.« Rund um mich starren mich die anderen Öffi-Passagiere interessiert an. Ist mir auch egal, denn ich koche.

      »Hör auf Alma, lass es sein, das bringt nichts.«

      »Den lass ich auffliegen.«

      »Das Gutachten ist aber in Ordnung.«

      Jetzt schreie ich.

      »Verdammt noch mal, der ist nicht einmal Psychiater, ein halbdebiler Polizeiarzt, ein Schnösel ohne Kenntnisse!«

      Erika unterbricht mich: »Ist ja schon gut. Beruhige dich. Er ist nicht schuld. Die war bipolar.«

      Ich seufze: »Danke trotzdem, aber …«

      »Nichts aber, du lässt das sein, okay?«

      »Okay, bis bald.«

      »Vergiss nicht auf die Jacke bei der Erni.«

      »Ja, ja, hab ich ja versprochen.«

      Ich lege auf. Ich bin frustriert, sehr frustriert, immens frustriert, am frustriertesten. Ich werde mich damit abfinden müssen, dass der Würzl einem unschuldigen Waisenkind die finanzielle Basis für eine gute Ausbildung zunichtegemacht hat. Der kriegt sicher was von der Versicherung.

      Man muss das Gutachten anfechten, man muss ein Gegengutachten schreiben, man muss den Mörder, von dem es sogar ein Bild gibt, finden, man muss den Fall in die Hand nehmen. Man bin ich.

      Ich rufe Sabines Mutter an. Sie hebt nicht ab, aber ich hinterlasse eine Nachricht am Beantworter: »Bitte rufen Sie mich zurück.« Ich werde es noch einmal versuchen, wenn ich mit dem Handydieb fertig bin.

      Das Interview mit dem Raubmörder verläuft wie beim letzten Mal: zäh. Es ist sehr schwierig, über einen Delinquenten etwas zu erfahren, wenn er entweder nicht sprechen will oder aber, wie bei dem, einen so geringen Wortschatz hat, dass er nicht mehr als: »Woas net, konn net, wül net …«, sagen kann. Ich bin jedenfalls nicht gescheiter als vorgestern. Egal, ich werde ein Gutachten zusammenschustern, ohne ihm die volle Unzurechnungsfähigkeit zu bescheinigen. Wenn jeder im Vollrausch so unzurechnungsfähig wäre wie er und jemanden umbringen würde, dann wären wir schon ausgerottet.

      Am Weg zurück zur U-Bahn versuche ich es noch einmal bei Frau Katz. Wieder nichts. Gut, dann werde ich zuerst einmal die Krankengeschichte von der Baumgartnerhöhe durchlesen, hoffentlich ist sie schon eingelangt.

      Heute hat Mutter für mich die Tiroler Knödel noch einmal aufgewärmt – mit Sauerkraut. Das Sauerkraut liebe ich zwar, ich nehme aber Abstand davon, es zu konsumieren, da ich eine Abneigung gegen menschliche Abgase hege. Es muss diskret entsorgt werden. Leider mögen die Tauben kein Sauerkraut. Deshalb kommt es in den Container mit den gebrauchten Spritzen. Da kann es gemeinsam mit den Blutresten vor sich hin gären.

      Ich bin heute besonders freundlich zu Mutter: »Oh, fein, ich hatte schon so lange kein Sauerkraut. Hast du es mit Speck gemacht?«

      »Ich habe es extra vom Naschmarkt geholt. Und mit Speck! Alles für mein Kind!« Den letzten Satz spricht sie extra laut, damit die Patienten im Wartezimmer auch hören können, dass sie alles für ihr Kind macht. Sie küsst mich auf die Stirn. Ich atme tief durch.

      »Mami«, flöte ich, »hast du die Krankengeschichte?«

      »Hab ich, mein Schatz, liegt schon am Schreibtisch.«

      Ich küsse sie zurück auf die Wange. Alles gut, Gott sei Dank.

      Statt mich mit Essen aufzuhalten, schlage ich die Krankengeschichte der Katz auf und beginne zu lesen. Zuerst das übliche Blabla, diktiert von einem Turnusarzt. Ich denke mir oft, Krankengeschichten müssen viele unnötige Buchstaben beinhalten, damit man sich nicht festlegen muss. Das überblättere ich, dann alle Laborbefunde – viele Laborbefunde. So als ob der Cholesterinwert etwas mit einer psychischen Erkrankung zu tun hätte. Viele Laborbefunde sollen darüber hinwegtäuschen, dass die klinische, zeitaufwendige Untersuchung zu kurz kommt. Ich verstehe es, aber ich heiße es nicht gut. Mir macht die Rederei mit meinen Klienten oft auch keinen Spaß. Trotzdem tue ich es, denn dafür werde ich bezahlt und dafür habe ich diesen Job gewählt. Ich hätte ja auch Kanalräumer werden können.

      Sabine wurde unfreiwillig auf die Allgemeinpsychiatrische Aufnahme- und Therapiestation Pavillon 21/2 gebracht. Sie habe paranoide Ideen geäußert, sich verfolgt gefühlt, ohne genaue Angaben über den Verfolger zu machen. Man nehme an, dass sie auch Stimmen gehört habe, das habe sie allerdings immer bestritten. Außerdem sei sie im Ductus beschleunigt gewesen und zerfahren. Man habe eine akute Selbstgefährdung angenommen und sie deshalb auf der geschlossenen Abteilung untergebracht. Die Stimmung sei ängstlich gefärbt depressiv gewesen. Man habe sie mit einem Neuroleptikum ruhig stellen müssen. Nach drei Tagen sei sie auf die offene Abteilung verlegt worden, von wo sie nach einer Woche nach Hause entlassen wurde. Im Entlassungsbefund wird ihr eine deutliche Besserung ihrer paranoiden Ideen und der Stimmung bescheinigt. Sie sei kooperativ gewesen und wurde auf ein Depotneuroleptikum sowie einen SSRI eingestellt.

      Als Entlassungsdiagnose steht ICD F31.5, also bipolare affektive Psychose. Komisch, passt irgendwie nicht zur Paranoia.

      Mich würde interessieren, wer Sabine einweisen ließ. Das wird ihre Mutter wissen.

      Eine stationäre unfreiwillige Aufnahme erfolgt nur nach polizeiärztlicher Genehmigung. Man kann nicht so einfach irgendjemanden, der einem unliebsam ist, auf die Psychiatrie abschieben. Normalerweise ist es eher so, dass Menschen, die eigentlich einer Beschränkung bedürften, aus rechtlichen Gründen nicht eingesperrt werden, was oft deren Suizid oder eine Gefährdung ihrer Umgebung zur Folge hat. Ich muss die Mutter erreichen.

      Dieses Problem löst sich schneller als gedacht. Auf meinem Computerdisplay erscheint