Wie Iphigenie hatte ich meiner hohen Göttin dienen wollen. – Nein, nicht wie Iphigenie! Des Agamemnon hehre Tochter diente der Göttin »mit stillem Widerwillen«. Eine bessere – eine heilige – Priesterin, hätte ich meine Arme erhoben: großen und gütigen Göttern zu danken, daß sie mich gewürdigt, die Opferflamme zu nähren. Denn:
Die Unsterblichen lieben der Menschen
Weit verbreitete, gute Geschlechter
Und sie fristen das flüchtige Leben
Gerne dem Sterblichen, wollen ihm gerne
Ihres eigenen, ewigen Himmels
Mitgenießendes, fröhliches Anschauen
Eine Weile gönnen und lassen.
Fünftes Kapitel
Unser Mietsherr
Kurz nach jener Iphigenien-Vorstellung folgte die Einsegnung, das Verlassen des Häuschens, das Einleben in andere, so völlig neue Zustande. Das letztere nahm eine lange Zeit alle meine Kräfte und Empfindungen ausschließlich in Anspruch. Schon der geringfügige Umstand allein, daß die Mahlzeiten des Sonntags nicht mehr in unserer lieben Dreisamkeit eingenommen werden konnten, kostete das Aufgeben eines Glücks.
Luise bezeigte bei der Einrichtung des neuen Hauswesens ein wahrhaft erschreckendes Organisationstalent: war doch der ganze spekulative Plan in dem klugen Kopf dieser Getreuen entstanden! Meine lyrische Mutter befand sich ihrer derben Praxis gegenüber hilfloser als jemals, dabei übrigens dankbar anerkennend, wie gut sie tat, sich schweigend in alles zu fügen, was Luise beschloß und bestimmte. Ich weiß nicht, wer erstaunter war: ob diese, ob meine Mutter, oder ich selbst, als plötzlich auch ich mich zu regen begann und auf einmal ebensogut eine Meinung abgab (und das sogar in Wirtschaftsangelegenheiten!) wie unser beider Befehlshaberin selbst. Lächelnd überließ meine Mutter uns zweien das Reich, sich mit ihren Blumen in ihr freundliches Hinterstübchen zurückziehend. Ihre Tätigkeit in der Haushaltung beschränkte sich fortan darauf die Mieter zu empfangen und denen, die bei uns wohnten, das fremde Haus heimisch zu machen. Luise enthielt sich mit vielem Takt jeder Art von Repräsentation und zwar in einem Maße, daß meine Mutter selbst den Fremden die Stellung bezeichnen mußte, die sie bei uns einnahm.
Mit unseren Mietsherren trafen wir es gleich das erstemal äußerst günstig. Auf rohere Naturen und solche, die sich gern gehen ließen, machte das vornehme und dabei so still-sinnige Wesen meiner Mutter gewöhnlich gleich bei der ersten Besichtigung der Zimmer einen derartigen Eindruck, daß sie nicht wiederkamen. Feinere Gemüter dagegen fühlten sich sofort lebhaft angezogen.
Das Verhältnis der Mutter zu den meistens sehr jungen Herren war ein überaus liebenswürdiges. Ohne sich im mindesten aufzudrängen, sorgte sie, sobald ihr das am Platz zu sein schien, für das Wohlbefinden eines jeden. Wer für sich tiefere Teilnahme finden wollte, brauchte dieselbe nur zu suchen. Sie präsidierte auch bei Tisch und bewirkte hier durch ihre Gegenwart, daß jeder unwillkürlich, wohl ihm selbst unbewußt, alles das geltend machte, was er an anmutiger Heiterkeit besaß. Teils frohe, teils ernste Gespräche würzten das einfache Mahl und fast immer geschah es, daß ich, die ich still beglückt zuhörte, in so freundlicher Weise die größeste Anregung und Belehrung empfing. Nach kurzer Zeit der Befangenheit hatte ich zu unseren Pensionären diejenige Stellung eingenommen, die der Mutter als die rechte erschien: lag doch in meinem Wesen viel Frohheit und Freudigkeit. Der Mutter war meine harmlose Munterkeit die liebste Stimmung, in der sie ihre Tochter sah; erschien sie ihr doch als die natürlichste.
Bei diesem ersten Verkehr mit der Welt tat ich vielleicht in einem sehr unrecht. Meiner heftigen Abneigung: mich allen doch mehr oder minder gleichgültigen Menschen so zu zeigen, wie ich war, völlig nachgebend, unterdrückte ich die ernsthaftere Seite meines Charakters in einem Maße, daß ich es den fremden Männern durchaus nicht hätte übelnehmen können, wenn diese mich zwar recht liebenswürdig, aber doch ziemlich inhaltslos gefunden. Daß sie nichtsdestoweniger meinem hübschen Gesicht und lebhaften Naturell in harmlosester Art huldigten, ist begreiflich. Einen Mietsherrn hatten wir, der nicht nur der Liebling der Mutter, sondern auch derjenigen Luisens war, vor deren gestrengen Augen sonst so leicht kein Mann Gnade fand. Letzterer Vorliebe ließ auf Ausgezeichnetes, wenigstens auf Außergewöhnliches schließen, eben auf ein »Exemplar von Mann«, mit welchem emphatischen Ausruf Luise ihren Gefühlen für Herrn Doktor Axel Fernow bei jeder Gelegenheit Luft zu machen pflegte.
Dieser Doktor Axel Fernow war – er mochte etwa dreißig Jahre alt sein – Mediziner und nahm auf der Universität einen Lehrstuhl als Privatdozent ein. Praxis betrieb er nicht. Übrigens war er ein überaus strebsamer und fleißiger Mensch. Befand er sich nicht in der Universität, so saß er auf seinem Zimmer und studierte. Nie kamen Bekannte zu ihm – nie ein Freund. Außer seinem Beruf schien er nur eine einzige Leidenschaft zu besitzen: das Theater. Luise behauptete zu wissen, daß er jeden Abend ins Schauspiel gehe. Mehr als alle seine andern guten Eigenschaften zog mich dies zu ihm hin.
In seinem Zimmer befanden sich so viele Bücher, daß die pathetische Luise sich zu der Erklärung veranlaßt fühlte: sie verwahre ihr Hirn gegen die Aufforderung, begreifen zu sollen, wie alles das jemals in eines Menschen Kopf hineingehen könne.
Von seiner Familie wußten wir nichts; doch behauptete Luise, daß dieselbe »hochfein« sein müsse; denn »hochfein« sei seine Wäsche. Bei allen unseren anderen jungen Herrn würde diese gestrenge Jungfrau die Zumutung: sich für bewußten Männerartikel zu interessieren mit Entrüstung zurückgewiesen haben. Doktor Axel Fernow machte auch darin von allen anderen eine Ausnahme; ja, sie ging in ihrer Leidenschaft für ihn so weit, daß sie sogar den Bändern an seinen Unterbeinkleidern eine zarte Neigung zuwandte.
Um auch ein Wort darüber zu sagen, wie dieses »Exemplar von Mann« aussah, muß bekannt werden, daß Herr Doktor Axel Fernow gerade kein Adonis war. Nichtsdestoweniger gefiel er mir außerordentlich und niemals wäre mir eingefallen zu denken, daß der Doktor kein »hübscher« Mann sei. – – Ein kurzer, dichter Vollbart umdunkelte Wangen, die fast blaß waren. Aber die feingeschnittenen Lippen leuchteten so rot wie die eines Mädchens und lächelte er, was freilich selten geschah, so bekam das ganze Gesicht einen ungemein liebenswürdigen Ausdruck. Über die klaren, dunkelgrauen, glänzenden Augen, die den scharfen, ruhigen Blick des Forschers hatten, legte sich das Brillenglas. Man mag sich Doktor Axel Fernow als die edelste Personifizierung seines Berufes vorstellen: männlich und gütig, ernst und sicher, allein durch seine bloße Gegenwart lindernd und beruhigend wirkend. Es mußte ein Glück sein, ihn zum Arzt zu besitzen; ein noch größeres, ihn zum Freund zu haben.
Auffallend fein waren seine Hände, von einer fast frauenhaften Zartheit.
Unter unseren Pensionären galt Doktor Fernow als Sonderling, aber zugleich als ein Mann von großer Begabung. Man bedauerte, daß er zu heftig gewissen Ideen anhänge und sagte ihm nach, daß er leidenschaftlich gern experimentiere. Darüber, daß er sich von den Menschen so fern hielt, zuckte man die Achseln und ließ ihn im übrigen seine einsamen Wege gehen.
Auch gegen uns verhielt sich Fernow in der ersten Zeit völlig ablehnend. Allmählich jedoch mochte das Wesen der Mutter ihn anziehen, die bei diesem Mieter, ohne erst eine Aufforderung abzuwarten, in ihrer geräuschlosen Weise alles tat, um ihm zu zeigen, wie gern man ihn im Hause habe und wie wert man ihn halte. Eklatanter waren die Gunstbezeugungen Luisens. Doktor Fernow war nämlich der einzige Herr, der das Essen auf sein Zimmer geschickt bekam. Da gingen denn aus Luisens Küche Tag für Tag wahre Meisterwerke hervor. »Das ist für meinen Doktor.« Dieses Wort der Beherrscherin aller Töpfe und Tiegel war täglich zu hören. Der gute Herr ließ es sich denn auch vortrefflich schmecken, völlig ahnungslos darüber, welche Aufregung die Sättigung seiner werten Person in der Küche hervorrief. Über seinen langen Nachtarbeiten verlor Luise beinah jeden Tag ihre eigene nächtliche Ruhe. Manchen Abend, wenn die