Endlich, nach fast zwei Stunden Harrens, kam an mich die Reihe. Der Diener machte mir ein Zeichen – ich raffte allen meinen Mut zusammen. Die Tür öffnete sich vor mir, ich schlug einen schweren Vorhang zurück, trat ein – – Noch ein Augenblick und ich stand vor dem großen Mann.
»Was wünschen Sie?«
»Sie bitten, mich zu prüfen,« brachte ich kaum über die Lippen.
»Haben Sie schon gespielt?«
»Nein.«
»Haben Sie schon einen Lehrer gehabt?«
»Nein.«
»Wie alt sind Sie?«
»Sechzehn Jahre.«
»Verfügen Sie über Mittel?«
»Nur über geringe.«
Eine Pause entstand. Ich glaubte mich hoffnungslos.
Dann von neuem, womöglich in noch unfreundlicherer Weise: »Deklamieren Sie etwas!«
Ich fühlte wie mich ein Schwindel ergriff; nur mühsam konnte ich fragen: »Was wünschen Sie?«
»Sprechen Sie etwas aus Schiller.«
Ich sprach etwas aus Schiller, was mir gerade einfiel. Noch heute weiß ich nicht, ob es aus der Jungfrau oder aus Maria Stuart war. Bereits nach einigen Sätzen ward ich unterbrochen: »Es ist gut.«
Natürlich glaubte ich. daß es schlecht sei. Ich mußte meine Augen schließen: ich sah lauter Farben, alles war Glanz.
Wieder eine Pause, unendlich lang, fürchterlich!
Ich hielt mich für verloren.
Als ich meine Augen wieder zu öffnen wagte, sah ich den großen Mann in seinem Lehnstuhl lehnen und heftig mit einem goldnen Bleistift spielen. Ich erwartete mein Todesurteil zu hören, als er aufstand, zu einem Bücherschrank ging, einen Band herausnahm, ihn aufschlug und, ihn mir hinreichend, sagte: »Lesen Sie das, die ganze Szene.«
Es war Clavigo, der Auftritt zwischen Marie und ihrem Bruder, die schönste und schwerste Prosa der dramatischen Literatur.
Ich hatte zu Ende gelesen und bemerkte jetzt, wie der große Mann mich unverwandt auf das Schärfste fixierte. Er erhob sich, ging aufgeregt im Zimmer umher. Plötzlich blieb er vor mir stehen, sah mich von neuem scharf an, dann – ich wagte nicht zu atmen – meinte er: »Sie haben Talent.«
Daß ich nicht laut aufjubelte! Daß ich dem Freundlichen, Glück- und Lebenspendenden nicht zu Füßen sank! – – »Sie haben Talent.« Verlangen, Wunsch und Sehnsucht – ich hatte sie nicht vergebens so lange zu meinen schmerzlichen Gefährten gehabt. »Sie haben Talent.« – – Erfüllung, des größesten Vaters schönste Tochter stieg auch zu mir hernieder, Erhörerin meines Gebetes, Geberin meines Glücks. – – »Sie haben Talent.« Die Opferflamme mochte angezündet werden, steigern und lodern. Am Altar stand die junge Priesterin, bereit zum getreuen demütigen, dankenden Dienst.
Die Stimme des großen Mannes entriß mich meinem Taumel.
»Kommen Sie morgen um diese Zeit wieder. Sie können meine Schülerin werden. Adieu.«
Ich schwankte aus dem Zimmer. Meine Audienz hatte so lange gewährt, daß ich von allen böse angestarrt wurde. Ich hätte jedem freundlich zunicken mögen. Der Diener, der mich hinausließ, machte nicht gleich wieder hinter mir zu; er stand wohl und sah mir nach. Auch auf der Straße taten das gewiß viele. Ich fühlte gar nicht, daß ich ging, daß unter mir die Erde war. Ich kam zu Hause an, stürzte in das Zimmer der Mutter, warf mich an ihre Brust: »Mutter, Mutter, Mutter – ich werde Schauspielerin!« Und jetzt brach es aus meinen Augen hervor, ein Strom seliger Tränen, die glücklichsten, die ich jemals geweint. Erst als ich mich beruhigt hatte, gewahrte ich, wie bleich und still meine Mutter dasaß. Sie war auf einen Stuhl niedergesunken und erschien wie entgeistert. Ich kniete vor ihr, aber sie drückte mich nicht an ihre Brust. Sie sah mich an und plötzlich wußte ich's. – – Daß mir jetzt der Schmerz die Besinnung nicht nahm, die mir die Freude gelassen! Aber ich fand sogar noch Kraft zu versuchen, meine Mutter zu beruhigen.
»Ich habe es gefürchtet,« sagte sie leise. »Ich habe es immer gefürchtet. Aber ich habe doch immer wieder gehofft.O , Kind! Kind!«
»Ich hätte es auch fürchten sollen,« erwiderte ich ebenso leise. »Ich meine deinen Kummer. Aber auch ich habe immer gehofft. Es macht mein Glück sehr traurig; aber dennoch – Gott helfe mir, Mutter, ich kann nicht anders!«
»Ich weiß es. – Ach, mein armes, unglückliches Kind!«
Und sie legte sich meinen Kopf an ihre Brust, als sei mir ein großes Unglück geschehen.
Siebentes Kapitel
Die ersten Lehrjahre
Ich übergehe die Schilderung meiner qualvollen Empfindung: höchstes Glück, gemischt mit höchstem Leid. Obgleich meine Mutter alles tat, mir ihren Kummer zu verbergen, ertrug ich's recht schwer.
Sprachlos vor Entrüstung bezeigte sich Luise. Da ich es ihr mitteilte, starrte sie mich zuerst an, als sei ich endlich wirklich von Sinnen gekommen. Nachdem sie begriffen, daß ich diesmal nicht »nur wieder einmal verdreht« sei – was sie zu gewissen Zeiten überhaupt für meinen normalen Zustand hielt – warf sie sich ohne weiteres ihre Schürze über den Kopf und brach in leidenschaftliche Tränen aus. Wie ihr Schluchzen allmählich in Stöhnen und Seufzen überging, kamen auch die Worte: »Schauspielerin will sie werden? Komödiantin? Du mein Gott, so eine! Reden freilich kann sie! Ja, wenn ein Frauenzimmer Pfarrer werden könnte!« –
Kurz, Luise war empört und faßte die »Komödiantin« als persönliche Beleidigung auf. Hoch und heilig verschwor sie sich: »Nie wieder in ihrem Leben ein menschliches Geschöpf als Schlange an ihrem Busen nähren zu wollen.«
Einige Tage redete sie denn auch wirklich kein Wort mit mir. Da fühlte ich mich eines Abends im Bette heftig umschlungen – ich hatte bereits die Lampe ausgelöscht und lag in halbem Schlaf – und nun flüsterte mir das gute Geschöpf ihre flehentliche Bitte um Verzeihung zu. Besonders zerknirscht zeigte sie sich über die Schlange.
Mit der Bewilligung meiner Mutter und Luisens, die sie mir notgedrungen erteilten, ward ich also Schauspielerin. Jener große Mann unterrichtete mich; außerdem trat ich in eine sogenannte Theaterakademie ein, damals die erste und einzige.
Zahllose Male bin ich in meinem Leben der Ansicht begegnet, daß ein junges Mädchen nur Talent zu haben brauche, um sofort, gleichsam über Nacht, »Künstlerin« zu werden; ja, daß bei uns Frauen das Talent nicht einmal immer die Hauptsache sei. Es ist so gemein!
Etwas anders, tüchtiger und ernsthafter verhält sich die Sache denn doch. Ohne mir anzumaßen, euch überzeugen zu können, laßt euch sagen: daß auch diese Kunst eine große, harte, schwere Arbeit ist. Oder glaubt ihr, daß die Rachel, die Crelinger, die Janauschek direkt vom Himmel auf die Bühne fielen? Von der Schülerin bis zur Meisterin – welche langen, langen Jahre eisernen Strebens, unermüdlichen Bemühens, nie ermattender Ausdauer liegen auch hier zwischen Beginn und Höhepunkt. Da muß man Kräfte haben, da gilt es standhaft sein: physisch und psychisch: Und hat man endlich, vielleicht todmüde, eine gewisse, niedrige Höhe erreicht, die man für sich als »Gipfel« bezeichnen muß, so muß man da droben festen Fußes stehen, Stürmen trotzend, Blitze nicht fürchtend. Dann darf nicht gewankt und gewichen werden.
Ist es doch nichts weniger als festgestellt, daß bei einem Schauspieler das Talent immer genügt, um ihm zu einem Erfolge zu verhelfen. Manch einer und manch eine mit sehr tüchtigem Talent und sehr ernstlichem Wollen und Streben gehen dennoch unbarmherzig zugrunde. Fragt