Nachdem ich mir dies vom Herzen gesprochen, bin ich noch einmal wieder ein Kind.
Von den Lehrgegenständen, die nach und nach meinen kleinen Kopf füllten, war mir Geschichte bei weitem das liebste, Geschichte, deren Helden jetzt die Stelle der Gestalten meiner Märchen einnahmen. Ihre Wirkung auf mich war beängstigend groß. Statt mit Schneewittchen, Dornröschen und Rotkäppchen zu leiden, tat ich das fortan mit Virginia, Lukrezia und Thusnelda. Die beiden Grundzüge meines Wesens: einen Gegenstand zu idealisieren und ihn dann gewaltsam auf seine Realität zurückzuführen, konnten hier friedlich nebeneinander wirken. Wenn ich über den Tod Virginias begeisterte Tränen weinte, ihr mit jedem Gefühl nachstarb, brauchte ich mich danach keinem noch heißeren Schmerz hinzugeben; denn Virginia war eine Tatsache der Geschichte, während schon das Kind vor dem Pfefferkuchenhäuschen der Frau Holle und dem Glaspantoffel Aschenputtels bald nach dem ersten Entzücken qualvolle Unsicherheit empfunden hatte.
Ich versuche nicht, die Verzückung Luisens auszumalen, wenn ich, mit einer Decke oder einem Bettuch drapiert, vor sie hintrat, um als Horatia pathetische Klage zu erheben, darüber, daß mein Bruder meinen Geliebten erstochen. Wenn es so weit kam, daß ich bei dem furchtbar großartigen Ausruf Horatios: »So ergehe es jeder Römerin, welche den Feind betrauern wird!« erstochen werden sollte, sank Luise ganz schwach auf einen Stuhl, über das »Ungetüm« von Bruder in wilde Entrüstung ausbrechend. Jedoch meinen größten Triumph errang ich vor diesem empfänglichen Publikum, als ich, in eine weiße Gardine gewickelt, einen Rosenkranz auf, mir vor Luisens eigenen entsetzten Augen deren großes Küchenmesser auf die Brust setzte, um mir als Lucrezia das Herz zu durchstoßen. Laut schreiend stürzte Luise auf mich zu, riß mir die Mordwaffe aus der Hand, brach in eine Flut von Tränen und Vorwürfen aus: ich hätte es auch gar zu natürlich gemacht!
Wenn ich nur die Küche als Bühne und nur Luise als Auditorium erwähne, so zeigt das, wie ich dergleichen Vorstellungen vor meiner Mutter geheimhalten mußte. Ich tat es unter den heftigsten Gewissensbissen; aber der Drang zum Schauspielern in mir war so unwiderstehlich, daß ich's nicht zu unterlassen vermochte. Ich konnte es auch nicht für mich allein tun, sondern mußte gehört und gesehen werden, wobei mir jedoch der Beifall nicht nur durchaus Nebensache, sondern im Gegenteil geradezu verhaßt war. Besonders gern hielt ich diese Vorstellungen in Abwesenheit der Mutter auf unserem Altan ab. Die Gartentür war verschlossen, drunten auf einem Stuhl saß feierlichst Luise, den Strickstrumpf zwar in der Hand, aber vor Erregung selten dazu kommend, ihre Nadeln in Bewegung zu setzen. Erwartungsvolle Pause –- dann erschien unter dem grünen Gerank eine kleine, weiße Gestalt, die nun zu sprechen begann.
Diese Heimlichkeiten, die Luise nicht nur zugab und begünstigte, sondern zu denen sie mich sogar zuletzt förmlich trieb, machten mein Verhältnis zu ihr immer vertraulicher – immer bedenklicher. Ihre Wirkung auf mich war durchaus nicht mehr harmloser Art. Durch ihre maßlose Bewunderung fing sie an, mir ernsthaften Schaden zu tun. Ich verlor meine schöne Unbewußtheit, wurde eitel, war kein so reines Kind mehr. Meine Mutter bemerkte diese Veränderung mit tiefem Kummer, ahnte vielleicht deren Grund, war aber zu schwach, eine sofortige Abhilfe zu treffen, wozu es auch bereits zu spät gewesen wäre. Indem sie mich inniger und inniger an ihr schönes Herz zog und mir ihre edle Seele zu empfinden gab, hob sie vieles von jenen schlechten Einwirkungen wieder auf.
Natürlich wurde mein deklamatorisches Talent auch in der Schule bemerkt und auch hier mit größerer Aufmerksamkeit behandelt, als mir gut war. Jede deutsche Stunde, in der ich ein Gedicht aufsagen durfte, galt als ein Ereignis für die ganze Klasse. Viele hatten es vor mir gesprochen, die meisten nicht gut – jetzt wurde mein Name gerufen. Wie mein Herz pochte! Wie mir alles Blut ins Gesicht stieg! Ich erhob mich. In die Klasse kam lebhafte Bewegung, der Lehrer mußte Ruhe gebieten, alles sah auf mich. Mit bebender Stimme begann ich, bald jedoch hatte ich meine Umgebung vergessen.
Noch sensationellere Erfolge erzielte meine junge Kunst bei den öffentlichen Prüfungen, die jede Klasse zweimal des Jahres zu bestehen hatte. Das Sprechen eines Gedichtes war der Höhepunkt dieser Produktion. Jedesmal ward die Deklamation mir übertragen. Sobald der wichtige Tag kam, war die Aufregung im Häuschen groß. Bereits eine Woche vorher, hatte Luise im Waschen und Plätten meines weißen Mullkleides ihr Meisterstück geliefert.
Dieses weiße, oft gewaschene Mullkleid! Mit Wehmut erinnere ich mich seiner recht bescheidenen Pracht, die mir damals als die denkbar größte Herrlichkeit erschien. Das köstliche Gewand durfte nur wenige Male des Jahres angelegt werden: an dem Geburtstag der Mutter, des Vaters und Luisens, an meinem eigenen und an eben jenem festlichen Ereignis in der Schule. Zum Glück hatte das Kleid sehr viele Falbeln: von diesen wurde jedes Jahr eine oben abgenommen und unten wieder angesetzt.
Dieses liebe köstliche Kleid ward an bewußtem festlichen Tag unter heftigem Applaus Luisens angelegt, durch eine rosaseidene Schärpe prächtig verschönt. Um die braunen Locken, die heute von den liebevollsten Händen mit besonderer Sorgfalt geordnet waren, wand sich ein Rosenkranz, von denselben gütigen Fingern verfertigt. So geschmückt betrat ich den weiten, mit Menschen angefüllten Saal, deklamierte, erhielt unter allgemeinem, oft geradezu stürmischen Beifall den Preis.
Was war's für ein Glück, wenn ich, so ausgezeichnet, mit strahlenden Augen nach den Meinen hinübersah. Dort saßen beide! Ich glaubte auf dem sanften Gesichte meiner Mutter einige Freude zu erkennen. Wie eine Päonie glühend, thronte Luise majestätisch im Staatskleid, heftig die Arme bewegend. Nickend und winkend, gestikulierte und pantomimierte sie ihr höchstes Entzücken zu mir herüber, so daß alle im Saale auf sie blickten. Was scherte sie das? Wie schön war der Heimweg, in Luisens Augen der Triumphzug, wobei sie fortwährend auf alle Begegnenden schielte, ob mich auch alle nach Gebühr anstaunten. Welche Entrüstung, wenn sie das nicht taten! Zu Hause gab's dann eine kleine, festliche Mahlzeit, zu welcher Luise einen wunderbaren Kuchen gebacken. Den ganzen Mittag und Abend gestattete sie uns nicht, von irgend etwas anderem zu reden.
Ich war vierzehn Jahre alt, als ich zum erstenmal ein Schauspiel sah.
Was hatte dieses Wort seit meinem ersten Erinnern für einen geheimnisvollen, mächtigen Klang für mich gehabt! Der Rattenfänger von Hameln hätte mich damit hinter sich her durch die ganze Welt gelockt.
Seit meine Mutter ihren lieben Lehrer geheiratet, war sie in kein Theater gekommen. Aber Luise war einigemal dort gewesen und erzählte mir davon, wie man sich denken kann, in nicht weniger wunderlicher Art, als von ihren Märchen. Da erhielt ich denn seltsame Begriffe. Schließlich malte ich es mir in meiner eigenen Weise aus und schuf mir so auf der Welt eine zweite Welt. Und – was soll ich's nicht gestehen – mir deuchte die selbstgeschaffene, die schönere.
Jedesmal, wenn ich zur Schule ging, blieb ich an den Straßenecken stehen, wo auf gelben, roten und blauen Zetteln zu lesen stand, welches Stück heute in dem und dem Theater gegeben wurde. Ich las die Titel, die Personen, die Namen der Schauspieler, fabulierte mir daraus die Handlung zusammen, wählte die Gestalt, die ich vorstellen würde, und setzte dahinter meinen Namen: Rolla. Ich fühle noch jetzt die Sehnsucht, die mir in jenen Zeiten wie ein glühender Strom zum Herzen drang; sehe mich noch jetzt an sonnigen und trüben Tagen an den Straßenecken stehen, ein kleines schmächtiges, mehr als einfach gekleidetes Ding. An mir vorüber brauste das Getriebe der Großstadt, rollten die Wagen, drängten sich die Menschen – ich hörte nichts! Vor mir stand mit großen Buchstaben: Die »Jungfrau von Orleans«, oder »Kabale und Liebe«, oder »Faust«. Ich stand, staunte hinauf und vergaß darüber das Leben.
Ich hatte auch noch nie ein Schauspiel gelesen, und jetzt sollte ich gar eines sehen!
Erst einen Tag vorher ward mir mein Glück angekündigt: es machte mich fassungslos. Von armen, kleinen Leutchen, die wir waren, konnte für das teure königliche Schauspiel nur ein Billett für die letzte Galerie erschwungen werden. Das Theater (es geschah an einem Sonntag) war ausverkauft: eine berühmte Tragödin gab Maria Stuart.
Schon das große, glänzend erleuchtete, von Menschen erfüllte Haus, der dunkelfarbige gewaltige Vorhang, der etwas Geheimnisvolles von uns abschloß, die Klänge des Orchesters, das Schwirren der Stimmen – alles das versetzte mich in einen Zustand von Fieber und Traum. Als der Vorhang aufging, wagte ich kaum hinzusehen und von der ersten