Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
Скачать книгу
Die Hoffart und die Weltlust in dem Herzen!«

      erhob ich mich, wie magnetisch angezogen. Die Mutter mußte mich niederdrücken: ich hatte gar nicht gehört, daß die Menschen, die hinter mir saßen, laut über mich murrten. Dann kam sie.

      Ein Applaus, der das Haus erschütterte, begrüßte sie, ein Regen von Blumen fiel ihr zu Füßen. Noch ehe sie gesprochen, stürzten mir schon die Tränen aus den Augen.

      Was soll ich weiter sagen? Ohne mich zu regen, saß ich da und starrte in die Tiefe hinab. Wenn die große Tragödin agierte, hätte ich – ich kann es noch heute nicht ausdrücken! Ihr wie eine der Blumen zu Füßen liegen, den Saum ihres Kleides berühren zu dürfen, erschien mir als Glück ohnegleichen.

      Ich bin durchaus nicht sicher, ob ich mir an jenem Abend bewußt ward, was es eigentlich mit Maria Stuart und Elisabeth von England für eine Bewandtnis habe. Nach dem dritten Akt vergingen mir fast die Sinne. Ich erholte mich und sollte nun durchaus nach Hause. Doch meine Bitte: bleiben zu dürfen, war so beängstigend leidenschaftlich, daß meine Mutter aus Furcht, mich noch mehr zu erregen, sie mir gewähren mußte. Als der Vorhang zum letztenmal fiel und das Publikum klatschte und klatschte, stand ich da, schluchzte und schluchzte, als ob mir das Herz brechen wollte. Wie die Tragödin hervortrat, hätte ich beinahe einen Schrei ausgestoßen: Maria Stuart war ja tot! Dann konnte ich gar nicht begreifen, daß es aus sei und wir fortgehen mußten. Aus Maria Stuarts Kerker wieder in unser Häuschen zu Luise zurück, das erschien mir nicht möglich.

      Auch von den traumhaften Tagen, die diesem unirdischen Abend folgten, vermag ich nichts niederzuschreiben. Luise zeigte sich ungemein entrüstet, daß ich über das große Ereignis keine Silbe äußerte. Wir waren zu arm, als daß die Seligkeit: von neuem für einen Abend Besitzer von zwei Galerieplätzen zu sein, sich sobald hätte wiederholen können. Trotzdem ich für einen nochmaligen Eintritt gern gestorben wäre, war ich verständig genug, meiner Mutter kein Wort zu sagen. Wußte ich doch, wie weh es ihr getan hätte, den Wunsch ihres Lieblings nicht erfüllen zu dürfen. Und ich wußte auch: manche Mitternacht verging, bis die Mutter in das Kämmerchen kam, darin sie mich in festem Schlummer glaubte, sich endlich gleichfalls zur Ruhe zu legen. Im Wohnzimmer saß sie bei trüber Öllampe und ließ ihre armen, müden Hände rastlos, rastlos Blumen verfertigen. Die Tochter wuchs heran, kostete viel Schulgeld, und obgleich Luise für gar kärglichen Lohn eine so treue Dienerin war, gab es Sorgen genug.

      So bekam ich denn früh Gelegenheit, mich im Entbehren zu üben. Maria Stuart wurde kein zweites Mal gesehen, wohl aber immer wieder von neuem erlebt, wobei indes der eine Unterschied war, daß die unglückliche schottische Königin statt von der großen Tragödin von der kleinen Rolla gespielt wurde. Im übrigen begnügte ich mich, mit noch mehr Beharrlichkeit als früher, vor den Theaterzetteln zu stehen und sehnsuchtsvoll hinaufzublicken. Den Titeln nach kannte ich bald ganz das Repertoir des königlichen Schauspielhauses auswendig. Trat meine Künstlerin auf – sie war engagiert worden – so war dies, obgleich ich nichts davon zu sehen bekam, ein Ereignis für mich.

      Als am Weihnachtsabend dieses Jahres die Lichter an unserem Tannenbäumchen brannten, lagen darunter – wie jauchzte ich auf! – Bücher! Bücher: Schillers sämtliche Werke.

      Viertes Kapitel

       Allerlei Wehmütiges und Sehnsüchtiges

       Inhaltsverzeichnis

      Man wird erstaunt sein, daß mir, der Tochter eines deutschen Lehrers, bis zu meinem vierzehnten Jahre der größte deutsche Dichter in seinen Werken fremd geblieben war; denn was ich in der Schule von ihm kennen lernte, waren nur einige seiner Balladen. Wenn mich diese schon außer mir gebracht hatten, wie mußten da erst die Dramen auf mich wirken!

      In einer Zeit schwerer Not hatte meine Mutter sich entschließen müssen, die kleine Bibliothek, die heiligste Hinterlassenschaft meines Vaters, zum Antiquar zu tragen; jedoch mit der Bedingung, daß ihr der Rückkauf gestattet sei. Jetzt ging aus den Händen meiner Mutter ein wahrer Frühling hervor, für dessen Erlös nach und nach Band auf Band wieder erworben ward. Auch Luise ließ sich nicht nehmen, den poetischen Blüten meiner Mutter ihre prosaischen Strümpfe hinzuzufügen und so kam es, daß eines Tages in unserem Häuschen ein großes Fest gefeiert werden konnte: das letzte Buch ward zurückgeholt.

      Unter den Werken befand sich natürlich auch ein Schiller. Wenn ich nun trotzdem nicht dazu kam, weder diesen Dichter, noch irgendeinen andern zu lesen, so hatte das meine ängstliche Mutter verhütet, wohl nicht mit Unrecht eine Steigerung meiner übergroßen Erregbarkeit bis zum entschieden Krankhaften befürchtend. Der Schrank, dessen Inhalt meine Sehnsucht gestillt haben würde, stand mir unverschlossen. Doch herzlich gebeten, seine Türen nicht zu öffnen, tat ich es niemals. Nur was meine heimlichen Deklamationen anbetraf, vermochte ich nicht eine gehorsame Tochter zu sein. Wie ein Dichter schon als Kind reimen muß, so mußte ich, derselben inneren Notwendigkeit zufolge, schauspielern.

      Wie sehr meine Mutter recht gehabt, zeigte sich nach jenem Weihnachtsabend, der mir den Schiller meines Vaters bescherte. Wenn ich sage, daß ich fast alle Dramen auswendig kannte, wird man mich gewiß der Übertreibung beschuldigen. Und doch war das der Fall. Einmal begonnen, war kein Anhalten, kein Aufhören mehr möglich. Mein ganzes Nervensystem litt darunter und einige Zeit kränkelte ich bedeutend. Aus Furcht, daß mir mein Schiller genommen werden könne, äußerte ich jedoch nie eine Klage. Die Angst der Mutter, der mein blasses Aussehen Besorgnis einflößte, lächelte und scherzte ich hinweg. Den wahren Grund ahnte wohl nur – man denke! – unsere grobsinnige Luise.

      Ich war gerade eingesegnet worden, als die kleine Familie einen großen Kummer erfuhr.

      Unser liebes Häuschen, in dem wir inmitten der lärmvollen Stadt, eine schier ländliche Idylle lebten, war Eigentum eines alten Gärtners, der nichts von der neuen Zeit wissen wollte, welche Stadtmauern niederriß und auf dem Felde des Landmanns riesenhohe Schornsteine aufführen ließ. Trotzig gärtnerte er weiter; pflanzte seinen Kohl, zog seine Blumen, ließ seine Frucht reifen, während rings um ihn her Häuser aus den Boden stiegen und sich Straße auf Straße ausdehnte. Man bot ihm für seinen Garten Summen, die ihn mit einem Schlage zum reichen Mann gemacht hätten; aber mein wackerer Gärtner wollte sterben, wie er gelebt hatte: den Boden bebauend, auf dem seine Eltern und Großeltern im Schweiße ihres Angesichts gesäet und geerntet. Der gute Mann, dem ich seinen redlichen Trotz noch heute danke, starb. Ein gleichgültiger, in diesem Fall wirklich lachender Erbe, mochte den Verkaufskontrakt bereits in der Tasche tragen, als er den braven Arbeiter zur Grube geleitete. Wenige Tage nach dem Begräbnis wurde uns angekündigt, daß wir in kürzester Frist das Häuschen zu räumen hätten.

      Das war ein trauriger Abend, an dem wir zum letztenmal auf dem Altan beisammen saßen. Es war gerade Frühling und noch heute glaube ich den Duft der Holunderblüten zu spüren. Die Zimmer standen bereits ausgeräumt. Es war so öde im Haus, als empfände das alte Gemäuer, daß es mit ihm zu Ende gehe. Die Mutter erzählte uns, wie sie hier mit ihrem Manne gelebt habe: so glücklich, daß sie niemals gesehen, wie niedrig die Decken seien und wie kahl die weiß getünchten Wände. Es war zum erstenmal, daß sie in solcher Art von ihrer Vergangenheit sprach. Ich rückte ihr zu, umfing sie mit beiden Armen, legte meinen Kopf an ihre Brust, und belauschte ihr klopfendes Herz. Auch von meiner Großmutter erfuhr ich an jenem Abschiedsabend zum erstenmal. Nachdem mein Vater gestorben, hatte sie ihrer Tochter – nicht vergeben, sondern eine kleine Jahresrente ausgesetzt, die aber nicht angenommen worden war. Jetzt wußte meine Mutter nicht einmal, ob sie noch lebte.

      Nie vergesse ich, mit welchem stummen Spiel Luise diese Erzählung begleitete. Zuletzt lief sie in ihre Kammer, wo wir sie sonderbare unartikulierte Laute ausstoßen hörten, so daß die Vermutung nahe lag, sie habe, um ihre laute Rührung zu ersticken, den Kopf unter ihre sämtlichen Betten gesteckt.

      Am nächsten Morgen ganz früh gingen wir drei noch einmal durch alle Räume. Von unserem Altan pflückte ich mir eine Ranke ab, deren fast zu Staub zerfallenes Laub bei jenen Lorbeerkränzen liegt, die mir durch ihre Spender teuer, ja heilig sind. Als wir unser Häuschen verließen, begriff ich, daß eines Menschen Heimat dort