Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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von Sinnen Gekommene.

      Ich wurde als Sachkundiger zugezogen. Ich sollte aussagen: ob ihr Verstand schon vor der Tat oder erst nach der Tat gestört gewesen. Ich mußte aussagen: Erst nach der Tat, hoher Gerichtshof.«

      »Schrecklich, schrecklich!«

      »Das sind Lebenstragödien.«

      »Und ihr Wahnsinn ist – –«

      »Nur tiefe Verstörtheit, allerdings bis zur Grenze des Wahnsinns. Während wir die Gretchenszene studierten, konnte ich bei ihr merkwürdige Wahrnehmungen machen, die mich in meiner Ansicht, daß Goethe sein Gretchen sich entschieden nicht wahnsinnig gedacht, durchaus bestärkten.«

      »Aber Sie hoffen doch sicher, sie heilen zu können.«

      »Sicher.«

      »Und weiß sie, was sie getan? Es wäre fürchterlich! Dann lieber unheilbarer Wahnsinn.«

      »Bis jetzt ist sie sich des Geschehenen nur auf Augenblicke bewußt und dann völlig traumhaft. Das wird nun freilich bald aufhören.«

      »Warum muß sie denn geheilt werden?« rief ich aus. »Lassen Sie sie doch bleiben, wie sie ist! Müßt ihr Ärzte denn immer so unbarmherzig-barmherzig sein?! Sterbende, denen der Tod Erlösung vom Furchtbarsten wäre, wieder zum Leben zurückzubringen; das ist ja unerhört, unmenschlich grausam! Ihr habt gewiß Mittel, von denen ein Tropfen alle Qual für immer beendet – warum spendet ihr diesen Tropfen nicht? – – Seien Sie gut, seien Sie groß und geben Sie dieser Bedauernswürdigen, was sie für immer um den Verstand bringt.«

      »Sie schwärmen.«

      Ich konnte ihm nichts darauf erwidern: wir waren vor der Irrenanstalt angelangt.

      Mich überlief jener Schauer, bei dem der Volksmund sagt: »Jemand geht über unser Grab.«

      Wenn ich damals gewußt hätte. – –

      Bemerkend, wie die Stimmung des grauenvollen Ortes sich mir schwer aufs Gemüt legte, führte mich Fernow zuerst in den Garten der Anstalt.

      Es war gerade die Stunde, in welcher sich die leichteren Geisteskranken in drei streng voneinander gesonderten Abteilungen: Männer, Frauen und Kinder im Freien befanden. Sie trugen graublaue kuttenähnliche Gewänder, und nur den weiblichen Kranken waren als Kopfbedeckung ganz leichte Häubchen gestattet.

      Beobachtend und bewachend hatten sich die Wärter und Wärterinnen unter sie gemischt. Die meisten wandelten miteinander umher, vertraulich mit verschlungenen Armen. Wer sich einsam hielt, wurde von den Wärtern zu den andern zurückgeführt. Viele kauerten auf den Bänken und starrten blöd vor sich hin. Andere waren mit Gartenarbeit beschäftigt. Sie gruben, pflanzten, jäteten, pflückten Gemüse. Ohne lärmend zu sein, führte manche Gruppe eine lebhafte Unterhaltung. Sie sprachen hastig und abgebrochen, oft halb unverständlich; Gebärden oder Mienenspiel waren bei vielen unheimlich lebendig und ausdrucksvoll. Die meisten Frauen hatten ihre Handarbeit mit herausgebracht. Nicht, daß sie immer bleich und elend ausgesehen hätten; aber ihre stierenden Augen, ihre verschwommenen Züge, ihre ruhelosen Hände, mit denen sie unaufhörlich hin und her fuhren, wobei sie mit welken Lippen wirre Worte vor sich hin murmelten – es waren trostlose Bilder der Zerrüttung des menschlichen Geistes. Hier stand einer, der seinen Gefährten eine pathetische Rede hielt, dort lachte ein Weib blödsinnig auf; eine andere begann zu kreischen und um sich zu schlagen. Sie wurde sofort genommen und hinweggeführt.

      Unaussprechlich traurig war der Anblick der vielen blödsinnigen Kinder; ich sah kein einziges spielen.

      Ich ging mit Fernow unter allen umher. Die meisten kannten ihn, viele drängten sich zu ihm. Sie redeten ihn an, klagten laut, beschwerten sich heftig, verlangten leidenschaftlich dieses und jenes, gewöhnlich ihre sofortige Entlassung. Während einige völlig sinnlos plapperten, zeigten andere vollkommnes Bewußtsein und größte Klarheit. Fernow behandelte beinahe jeden anders: Mit dem einen sprach er heiter, mit dem andern streng; den einen tröstete, den andern schalt er. Diesem versprach er Abhilfe seiner Beschwerden, bei jenem ging er auf seine fixen Ideen ein; diese wiederum wies er kalt zurück.

      Ich war erstaunt, wie viel völlig Vernünftiges ich von diesen Unvernünftigen zu hören bekam.

      Plötzlich faßte ich Fernows Arm.

      »Um Gottes willen – hören Sie!«

      Wilde Schreie, wütendes Gebrüll, Geheul, Gegrunz, völlig bestialische Laute. –

      »Es ist einer der Tobsüchtigen. Lassen Sie sich nicht zu sehr davon ergreifen. Wo die menschliche Vernunft so zerstört ist, hört das Menschliche auf.«

      »Wie muß das Geschöpf aussehen, dessen Sprache solche Töne sind?«

      »Martern Sie Ihre Phantasie nicht mit der Vorstellung. Aber jetzt wollen wir hineingehen.«

      Auch drinnen wurden mir Ohr und Seele von den entsetzlichen Tönen zerrissen.

      »Sie haben alle Anlage, eines schönen Tages den Verstand zu verlieren,« hatte der Freund bei Anlaß meiner Orsina-Deklamation gesagt. Und jetzt diese Laute! Es gab auch tobsüchtige Frauen im Hause – warum sollte darunter keine sein, die einst wie ich gewesen, schaudernd bei dem Gedanken, daß es in der Welt Wahnsinn gibt.

      Wir mußten an der Zelle des Tollen vorbei. Trotzdem die Wände, wie Fernow mir sagte, ausgepolstert waren, meinte ich zu vernehmen, daß er mit dem Kopf gegen die Wand stieß.

      Fernow sah mich erschrocken an und faßte nach mir. Ich wankte und mochte totenbleich sein.

      Vor einer der letzten Türen blieben wir endlich stehen.

      »Wenn Sie sich von dem Eindruck, den das Gebrüll jenes Tiermenschen auf Sie gemacht erholt haben, wollen wir eintreten.«

      Ich bat, das sogleich zu tun.

      »Warten Sie, Sie können sie erst vorher sehen.«

      Er schob geräuschlos eine kleine Holzplatte zurück, die in der Tür eine Öffnung verschloß und blickte hindurch.

      »Wir treffen es günstig. – – Sehen Sie!«

      Sie saß am Fenster von Sonnenstrahlen umfunkelt. Ihr Gesicht war von mir abgewendet: aber dem zierlichen Kopf nach mußte es reizend sein. Sie trug weder die Tracht der übrigen Kranken, noch das entstellende Häubchen. Auch die Haare waren ihr nicht abgeschnitten worden. Die Sonne schien darauf und ich hätte beinahe einen Ausruf der Verwunderung getan.

      Fernow gab ein bestimmtes, leises Zeichen, auf welches hin die Irre am Fenster hastig auffuhr. Da die Tür sich öffnete und die Wärterin heraustrat, sah ich auch jetzt ihr Gesicht nicht.

      »Es scheint heute recht gut zu gehen?«

      »Sie hat wieder ihre tolle Idee,« antwortete die Frau gelassen.

      »Gehen Sie hinunter, gute Marianne. Ich möchte mit der Dame allein bei ihr bleiben.«

      Die Frau nickte und entfernte sich, ohne mich angesehen zu haben.

      »Marianne war zwanzig Jahre als Kranke in der Anstalt; sie wurde geheilt, wollte aber nicht wieder fort. Sie ist eine unserer zuverlässigsten Pflegerinnen. – – Damit Ihre unbekannte Gestalt sie nicht erschreckt, werde ich vor Ihnen eintreten.«

      Mit solchem Antlitz eine Mörderin! – – Gott sei Dank, daß ich in diesen sanften, schwermütigen Augen den starren Blick des Wahnsinns gewahrte, daß ich sah, wie die schlanken, blassen Hände sich ruhelos, ruhelos aneinander rieben, als ob sie von jenem schrecklichen Griffe, den sie getan, immer noch schmerzten.

      Der Freund redete sie an; aber heute gab ihr der Ton der bekannten Stimme nicht das Bewußtsein seiner Gegenwart. Sie horchte auf, war sichtlich bemüht, sich auf ihn zu besinnen, ohne jedoch eine Erinnerung finden zu können. Auf einmal belebten sich ihre Züge. Ein wundersamer Ausdruck von Entzücken verklärte sie förmlich. Sie lächelte glückselig vor sich hin und fragte uns, ob wir zu ihrer Hochzeit gekommen wären.

      »Aber, gute Anna, du hast ja deinen Kranz noch nicht fertig