Die Straße war abgesperrt und ihre Eingänge von Polizisten besetzt. Eine lautlose Menschenmenge drängte sich dort. In unübersehbarer Reihe standen die Wagen, so daß ich mich nur mit Mühe in der Nähe der Kirchentür aufstellen konnte.
Da stand ich nun. Vom Himmel, der sich dicht mit grauen Wolkenmassen behängt, rieselte es unaufhörbar herab. Es war unsäglich trübselig!
Es tat mir nun doch leid, daß ich Fernows Anerbieten nicht angenommen hatte: dieser Vorgang auf der Straße war nach jenem feierlichen Augenblicke ein zu trostloses Nachspiel! Eine Farce nach einer Tragödie.
Ich befand mich nämlich mitten in einen Haufen von Weibern eingeklemmt. Sie gehörten sämtlich dem Theater an: Schließerinnen, Ankleiderinnen, Wäscherinnen. Sie sprachen natürlich über die Verstorbene und waren natürlich ungemein gerührt. Einige benutzten die günstige Gelegenheit, sich den Genuß von Tränen zu gönnen. Nachdem die ersten Stürme ihres Beileids vorüber, suchten sich die Gemüter durch vertrauliche Mitteilungen aus dem Leben der Verstorbenen zu beruhigen. Danach erneuter Ausbruch von Jammer und Tränen, erneutes Beruhigen durch die menschenfreundliche Betrachtung: was das für eine Frau gewesen! Nachdem dies Thema erschöpft, kamen gewisse Anekdoten an die Reihe, die widerwärtigsten Kulissengeschichten! Darauf die Berichte über ihr Sterben, wobei jede etwas wissen wollte: was dieser gehört, was jener gesagt, wie dies gewesen, wie das. Erneuter Gebrauch der Taschentücher und heftiges Schelten: wie lange es dauere! Folgte die eingehendste Kritik des ganzen Begräbnisses. Folgte erneutes Wehklagen. Dann heftiges Drängen bei der Nachricht, daß sie kämen! Als die Wagen anfuhren, wurden diese inspiziert. Daß der Hof Equipagen geschickt, versetzte die ganze Gesellschaft in entzückte Rührung. Noch ehe der Sarg kam, stiegen viele aus dem Trauergeleit ein. Ich erfuhr auf das genaueste, wer sie seien. Sogar eine Durchlaucht war darunter! Von der königlichen Bühne seien die und die nicht erschienen – natürlich nicht! Man wisse warum. Das war die A., das der R., das die B. Daß die C. gekommen, war zu schön von ihr! Die Trauertoiletten wurden bekrittelt, ebenso die Kränze, die bestimmt waren, der Toten ins Grab nachgeworfen zu werden. Dabei wurde in Paranthese von dieser und jener diese und jene pikante Geschichte erzählt.
Wie betäubt lehnte ich an der Wand. Mein Schmerz ward durch Widerwillen entweiht.
Endlich verstummten in der Kirche Musik und Gesang. – – Erneuertes Drängen und Ausstrecken der Hälse. Ob ein Hochzeitszug, ob ein Leichenzug, ob ein Trauerspiel, ob eine Posse – wenn es nur etwas zu sehen gab!
Der Sarg kam. Er war über und über mit Blumen bedeckt und wurde von Schauspielern getragen. Ältere Mitglieder der Bühne, die mit der Toten zusammen gespielt, hielten die Zipfel des Bahrtuches. Wir waren die Augen trüb, so daß ich nicht lesen konnte, was auf den langen Atlasbändern in Goldschrift gedruckt stand. Die Lektüre besorgte meine Umgebung. Unter unmäßiger Bewunderung, von Tränen und Schluchzen unterbrochen, wurden die pathetischen Worte einer großen Künstlerin ins Grab nachgerufen, von den gemeinen Stimmen abbuchstabiert, Gott im Himmel! dann taxierten diese Weiber sogar, wie viel Bänder und Kränze gekostet!
Länger ertrug ich's nicht. Es gelang mir, mich durchzudrängen und unter eine andere Gruppe zu flüchten, wo man wenigstens schwieg – – Jetzt begann die dem Sarg vorangehende Trauermusik zu spielen. Der Zug ordnete sich. Endlich konnten Wagen und Fußgänger sich in Bewegung sehen. Als eine der letzten schloß ich mich dem Geleit an.
Es war ein weiter Weg nach dem Kirchhof. Der graue Himmel, die schmutzige Straße, die Luft voll nassen Nebelgeriesels – es war gerade die rechte Stimmung! Meinen jungen Kopf füllte ein Gewühl von Gedanken.
Auf dem Kirchhof wehte der Herbstwind die letzten braunen Blätter von den Bäumen. Sie raschelten über die Gräber dahin, dahin über welke Kränze, über die vom ersten Frost erstarrten Blüten. Ganz entsetzt blickte ich mich um. – – War dies wirklich derselbe schöne Ort, der das Paradies meiner Kindheit gewesen? Hatte ich mir wirklich einmal nichts sehnlicher gewünscht, als darauf auch ein Grab zu haben?! Eine ungeheure Angst faßte mich. Die majestätischen Klänge des Trauermarsches wühlten mir die Seele auf. Licht, Frühling, Sonnenschein – ich wollte leben!
Ich stand entfernt von der Gruft, so daß ich von den vielen Reden, die daran gehalten wurden, nur wenig verstand. Es sprachen: der Geistliche, der Intendant, mehrere Schauspieler. Was ich hörte, klang prächtig und erhaben. Um mich her wurde viel geschluchzt – ich konnte nicht weinen. Als sie den Sarg unter Klängen und Chorlied niedersenkten, grüßte ich still hinüber. Ich mußte denken: Da stehen all die Menschen; jeder mit einem Schmerz prunkend, von dem er nichts fühlt. Und hier bin ich, von allen Trauernden die Bescheidenste und Unscheinbarste und – umfaßt von diesen Armen ist sie gestorben!
Ich suchte mit den Blicken den Freund und sah ihn abseitsstehend wie ich. – – Ich grüßte mit den Augen hinüber.
Du und ich, wir beide könnten auch eine Rede halten. Dich hat sie erkannt und wohl gewußt, von welcher Hand sie ihre erkalteten Hände fassen ließ. Könnte ich es ihr einmal nachtun!
Er hatte mich bis dahin wohl nicht gesehen; jetzt schien auch er etwas zu suchen und zu finden. Während sie auf den Sarg die Kränze hinabwarfen, begegneten sich unsere Blicke.
Der Schwarm hatte unsere Tote endlich einsam gelassen; nur Fernow und ich standen noch an dem blumigen Hügel, auf dem ich jetzt auch meine bescheidene Spende niederlegte: all die wenigen Blumen, die mir in meinen Töpfen erblüht waren.
»Sie war ein reines Weib und eine wahre Künstlerin. Weil sie eine echte Priesterin war, meinte sie eine Vestalin sein zu müssen. Sie hat ihrer Göttin schwer gedient – ruhe sie aus! Sie aber, liebe Freundin, die auch Sie in Ihrem Herzen ein Opferfeuer entzünden wollen, sollten unserer Hinabgegangenen ein Wort – einen Eid nachrufen, der Sie wie ein Talisman gegen das Unheil schützt, dem dieses schöne Leben zum Opfer gefallen.«
Und ich, kaum wissend, was ich sprach, flüsterte hinab:
Die Flamme lodert und die Sonne steigt!
Siebzehntes Kapitel
Am Vorabend großer Ereignisse
Der große Tag rückte näher und näher. Bereits bemächtigten sich die Zeitungen der Sache. Um das Publikum für mich zu interessieren, wurde diese und jene Notiz über mich gebracht, sogar mein Privatleben in die Öffentlichkeit gezogen. Da dies jedoch ungemein einfach war, so erwiesen sich gewisse Zutaten als notwendig. Fernow lachte, als er mich darüber bestürzt und empört fand und riet mir, mich beizeiten daran zu gewöhnen. Dieser Anfang sei fabelhaft harmlos! Es werde bald ganz anders kommen. Dergleichen müsse man kühl aufnehmen.
»Öffentlich gedruckte Unwahrheiten kühl aufnehmen! Wohl gar Verleumdungen! Und das fordern Sie von mir!« rief ich entrüstet.
Fernow lachte laut auf.
»Sie sind für eine beginnende Künstlerin polizeiwidrig unschuldig. Hatten Sie denn noch nie einen schauerlichen Traum von der Presse? Gutes Kind, Sie werden noch viel davon träumen! Oder wollen Sie etwa gegen diese Macht zu Felde ziehen? Arme Freundin, Sie würden tausend Niederlagen erleben! Ich will Ihnen einen Rat geben: wenn Sie später des Morgens beim Frühstück nicht mit einer wahrhaft zynischen Gelassenheit in den neuesten Tagesnachrichten gewisser Blätter lesen können: daß Sie mit keinem Zoll eine Künstlerin seien, daß Sie den Erfolg des letzten Abends nur der Bravour Ihrer Claque zu danken gehabt hätten – ich sage: wenn Sie das nicht lesen können, ohne darüber Ihren Kaffee nicht kalt werden zu lassen, so lassen Sie mich noch heute der königlichen Intendanz aufkündigen. Ein Königreich für eine pikante Notiz aus dem Privatleben einer Schauspielerin! Machen Sie sich nur darauf gefaßt, von der Presse Dinge über sich zu hören zu bekommen, von denen Sie selbst ahnungslos sind; je intimer, desto besser! Wahrscheinlich wird man Ihnen sogar sehr bald einen Liebhaber besorgen, der natürlich einer unserer ersten Notabilitäten sein wird.«
»Meine arme Mutter! – – Im übrigen halte ich es nicht für nötig, daß Sie sich um meinetwillen