Eine tiefe Blässe überzog ihr Antlitz.
»Ich erwartete – ich wusste es längst, Vater!« sagte sie. »Es bleibt uns keine Wahl, wir müssen fliehen – sterben. Es ist mir oft, nein, immer durch den Sinn gegangen, aber ich kann mich dazu nicht entschließen, ich kann nicht die Gattin eines Mannes werden, der mir schon bei seinem Nahen ein Entsetzen einflößt, das ich nicht zu schildern vermag, dessen Blick mein Blut erstarren macht. Ich würde sterben, wenn seine Hand die meine berührte. Ich kann es nicht, Vater; selbst der Gedanke, dass er Dir die Freiheit gewähren würde, gibt mir keinen Trost. So lass uns das Äußerste wagen; dann sterbe ich wenigstens unentehrt!«
»An mich denke nicht, Kind! Ich würde Deine Schande nicht überleben!« rief der Vater, sich etwas gesammelter erhebend. »Ja, es bleibt uns keine Wahl! Du musst Dich rüsten mit dem Mut der Verzweiflung, der jeder Gefahr trotzt, der den Tod nicht für das Schlimmste achtet. Ich will alles überlegen – reiflich – ruhig– jetzt kann ich es nicht! Ich werde um einige Tage Aufschub bitten; inzwischen fliehen wir. O welch Verhängnis! Und weshalb straft mich Gott so sehr! Weshalb verblendete er mich durch diesen unseligen Eigensinn!«
»O Vater, ich bitte Dich, zürne nicht! Ich kann Dich nicht klagen hören«, bat Mary. »Sieh, ich bin so ruhig und entschlossen. Es ist mir leichter ums Herz, da ich nun weiß, dass wir dem Ende entgegengehen. Aber horch! Hörst Du nichts? Was ist das für ein Lärm?«
Der Vater sprang auf. Glaubte er, dass die Hilfe nun kommen müsse, da sein Elend so groß sei? Ein Strahl freudigen Erschreckens flog über seine Züge. Er lauschte. Man hörte den verworrenen Ruf vieler Stimmen.
Mr. Hywell sprang zum Fenster hinauf, und sich weit vorbeugend, versuchte er trotz der Breite der Mauer die Ursache des Lärms zu erfahren. Man konnte vom Fenster aus einen Teil des Dorfes übersehen. Die Stimmen kamen näher. Aber man rief in kurdischer Sprache; Mary und ihr Vater verstanden nichts.
»Halt – da, jetzt sehe ich!« rief Mr. Hywell plötzlich. »Ein Menschenschwarm kommt den Hügel herauf – in ihrer Mitte drei Reiter – o Mary, es ist nichts für uns – es sind Kurden – oder Türken!«
»Ich bitte Dich, Vater, sieh hinaus!« rief Mary. »Mir pocht das Herz so stark – es müssen Freunde sein!«
»Ach« Mary, ich glaube nicht. Es sind Türken, drei Reiter – der mittlere scheint der Herr zu sein, prächtig gekleidet, mit Turban und Waffen im Gürtel. Sein Gesicht ist weißer als das der Begleiter, die seine Diener zu sein scheinen. Er zieht ein Papier hervor und zeigt es der Menge, die ihn umgibt und begleitet. Es eilt jemand auf ihn zu – es ist der Armenier. Der Reiter grüßt ihn lässig. Jetzt reiten sie den Berg hinauf, diesem Hause zu – mein Gott! – irre ich mich? Jetzt blickt er gerade hierher, als ob er wisse, dass jemand hier nach ihm ausschaue – Mary, es ist Wiedenburg!«
»Gott sei gedankt!« rief das zitternde Mädchen, und in die Knie sinkend, hob sie die Hände wie betend, empor. »Ich wusste es! Er konnte uns nicht verlassen!«
»Er ist es, er ist es!« jubelte der Vater. »Immer zeigt er das Papier – die Kurden umgeben ihn neugierig, einige voll Scheu, andere mehr drohend. Was bringt er, was will er? Ich sehe niemand außer ihm und seinen beiden Dienern. Wäre er tollkühn genug zu hoffen, dass ein Blatt Papier uns retten könne, jetzt, da die Leidenschaft dieses Menschen, des Häuptlings, entflammt ist?«
»O Vater, lass – es ist ein Freund – ein treuer Freund mehr!« rief Mary. »Lass uns hoffen! Er bringt vielleicht einen Befehl des Sultans, uns freizugeben.«
»Er blickt starr hierher – er erkennt mich!« rief Mr. Hywell. »Er grüßt mich! Willkommen, Wiedenburg!« rief er laut hinaus. »Da – jetzt sind sie verschwunden, ich sehe nichts mehr!«
Er fuhr mit der Hand über die geblendeten Augen und stieg von der Erhöhung nieder, zitternd, glühend vor Aufregung.
»Was sagtest Du?« rief er. »Einen Befehl des Sultans, uns freizugeben? O hoffe das nicht! Der Sultan hat keine Macht über diese Wilden. Er kommt, um uns zu helfen, aber allein? Mit tausend Reitern sollte er kommen, diesen Kaschir-Aga und seine Räuber aufs Haupt zu schlagen! Was vermag er jetzt auszurichten? Kaschir-Aga gibt Dich nicht frei – jetzt nicht! Nun, ich muss hinaus, Kind – ich muss wissen, was es ist. Bleibe Du hier – ängstige Dich nicht. Vielleicht bringt er uns wenigstens frohe Botschaft – vielleicht will er uns nur nahe sein. Er ist ein braves Herz – hat uns nicht vergessen. Auch Gott vergisst uns nicht!«
Er beugte sich zu ihr nieder, schloss sie schnell, heiß, leidenschaftlich in seine Arme. Dann eilte er hinaus.
Mary, noch kniend, schloss die Hände zusammen. Ihr Kopf senkte sich auf die schweratmende Brust. Sie betete.
Als Mr. Hywell atemlos auf dem freien Platze vor dem Hause des Häuptlings anlangte, sah er eine Szene voller Unruhe und Bewegung vor sich. Hunderte von Kurden umdrängten Wiedenburg und seinen Begleiter, und soeben durchschritt Kaschir-Aga, von einigen ältern und angesehenern Kurden begleitet, die wogende Menge. Das Gesicht des jungen Häuptlings war ernst und finster, ja sogar, wie es schien, bleicher als gewöhnlich.
Wiedenburg hielt sein Pferd an, sobald er Kaschir-Aga bemerkte. Die hohe Gestalt des jungen Deutschen bot in der reichen türkischen Kleidung einen stattlichen, imponierenden Anblick. Den Bart trug er ganz voll, in türkischer Weise; nur die weißere Hautfarbe und der regelmäßigere germanische Schnitt des Gesichts verkündeten, dass er kein Türke sei. Er grüßte Mr. Hywell, der sich bemühte, die Menge zu durchbrechen, mit einem freundlichen und achtungsvollen Neigen des Kopfes und wandte sich dann stolz zu Kaschir-Aga, demselben den Ferman hinreichend.
Der junge Kurdenhäuptling empfing denselben mit einer deutlich erkennbaren Mischung von Verdruss und Ehrerbietung. Er neigte sich, küsste das große Siegel der Papierrolle, nachdem er es flüchtig gemustert, und las dann den Inhalt. Mr. Hywell war dicht zu dem Armenier getreten, der sich bemühte, ebenfalls den Ferman zu lesen. Kaschir-Agas Miene wurde noch finsterer; der Inhalt des Schriftstücks schien ihm nicht zu behagen.
Dann aber wandte er sich zu dem Armenier und sagte diesem einige Worte. Der Armenier übersetzte sie dem Deutschen.
»Kaschir-Aga«, so lautete die Antwort des Kurdenhäuptlings, »Kaschir-Aga, der Sohn Tamir-Agas, des Häuptlings der freien Kurden vom Stamme der Hakkari, achtet den Ferman des Padischah von Stambul nicht als einen Befehl, sondern als den Wunsch eines mächtigen Freundes und heißt den Fremden in seinem Hause willkommen. Er wird den Rat seines Vaters und der Ältesten seines Stammes einholen, um zu erfahren, ob ein Fremdling, der vor kurzem noch sein Gefangener war, Anspruch hat auf das Recht der heiligen Gastfreundschaft. Bis dahin wird der Fremde im Hause der Häuptlinge wohnen, und was er wünscht, wird zu seiner Verfügung stehen!«
»Der Padischah in Stambul ist Dein Herr und nicht Dein Freund!« rief Wiedenburg stolz und zuversichtlich. »Er hat Dir zu gebieten, und ich komme als sein Bote. Die Scharen, die er bei Bajazid versammelt hat, sind mächtig genug, um die Männer dieser Berge für immer in Fesseln zu schlagen, und der Pascha von Wan hat Befehl, darüber zu wachen, dass die Gebote des Padischah ausgeführt werden. Aber ich hoffe, dass wir uns einigen werden in Frieden und Freundschaft.«
Als der Armenier dem Kurdenhäuptling diese kühnen Worte verdolmetschte, erhob sich ein dumpfes Murren unter der Kurdenschar. Kaschir-Agas Stirn zog sich drohend zusammen, aber er winkte mit der Hand Ruhe.
»Kaschir-Aga wird den Rat seines Vaters und, der Ältesten einholen!« ließ er durch den Armenier antworten, nichts weiter.
Dann schien er einigen Kurden Befehle zu geben, neigte sich nach orientalischer Sitte höflich gegen Wiedenburg und kehrte in das Haus zurück, mit finsterer Miene, die Augen fast geschlossen, wie jemand, der eine heftige innere Bewegung unterdrückt und auf Rache sinnt.
»Verzeihen Sie mir, wenn ich ein wenig förmlich tue«, wandte sich dann Wiedenburg zu Mr. Hywell, der ihm die Hand reichte. »Ich komme in der Tat als Gesandter des Sultans und muss dieser Menschen wegen eine